Letzte Haut - Roman
hat sein Schulfreund Stellung bezogen, den er während des Studiums aus den Augen verloren und erst im Lager wiedergetroffen hat. Paul verließ nach der Schule die schlesische Kleinstadt, um in Breslau Kunst zu studieren. Genau wie sein Schulfreund stammt er aus armen Verhältnissen, was ihn davor bewahrte, eine allzu romantische Vorstellung vom Künstlerleben zu entfalten. Paul Preller wollte Geld verdienen mit der Kunst, seine Bilder in schlesischen Galerien unterbringen und seinen Eltern jeden fünften Teil eines Verkaufs schicken.
Die halbe Kleinstadt hatte ihm Glück gewünscht, als er auszog, Glück fürs Studieren, doch sein Schulfreund hatte all das überhaupt erst möglich gemacht. Paul Preller fiel das so plötzlich beim Auskleiden in der Desinfektionskammer wieder ein, dass ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief, und während er die Kleidung sorgsam zusammenlegte, in der Reihe stand und nackt darauf wartete, mit einem Strahl kalten Wassers abgespritzt zu werden, erinnerte Paul Preller sich, wie er als Zehnjähriger ins Eis des Stadtsees einbrach, wild mit den Armen ruderte, versuchte, sich am Eis festzuhalten, das aber immer weiter abbröckelte. Wie die Winterkleidung immer schwerer wurde und ihn schließlich ganz nach unten zog. In diesem Augenblick, den Kopf schon unter Wasser, spürte er plötzlich zwei Hände, die an seinen langen Haaren zerrten. Instinktiv klammerte er sich mit beiden Händen fest an diese Handgelenke und hätte sie niemals wieder losgelassen. Mit letzter Kraft stieß er sich noch einmal nach oben, kam mit dem Kopf über die Wasseroberfläche und hörte seinen Schulfreund schreien, wild und kämpferisch schreien, bis dieser Junge, an dessen Handgelenke Paul Preller sich klammerte, jäh ein paar Meter weit nach hinten gerissen wurde und ihn so halb aufs Eis zog. Das Eis aber brach immer weiter vor seiner Brust und seinem Bauch ab, doch schließlich waren die Menschen, die mit Seilen an den Beinen des Schulfreundes zogen, schneller als das brechende Eis. Ein katholischer und ein jüdischer Deutscher rannten mit ihm auf den Schultern in die nächst beste Ausflugsgaststätte, wo sofort Tische freigeräumt und zusammengestellt wurden und wo Paul Preller von der nassen Kleidung befreit wurde. Der Katholik schlug ein Kreuz, der Jude begann zu beten und der Wirt rieb Pauls Brust mit einer brennenden Flüssigkeit ein.
Doch so gern Paul Preller sich auch erinnern wollte und so sehr er sich auch in der Kammer des Lagers konzentrierte, er kam nicht mehr auf den Namen seines Retters, und das peinigte ihn mehr als der eiskalte Wasserstrahl und das hämische Lachen der SS Männer.
Sie wurden nach der Rettungstat sogar Blutsbrüder, sie trafen sich danach doch sooft und erzählten sich alles, was sie loswerden wollten und mussten, und als er die Stadt verließ, da schrieben sie sich doch regelmäßig und häufig, bis dann für ihn der neue Lebensabschnitt begann und das Vergangene schließlich keinen Platz mehr in seinem Leben hatte. Wie sehr er das jetzt bereute! Wie dumm er doch gewesen war! Wie hatte er nur das Wesentliche so vernachlässigen können? Sich nicht an den Namen erinnern zu können, war für Paul Preller um so beschämender, als sein Schulfreund ihn sofort erkannt und mit ‚Paulchen van Gogh‘ begrüßt hatte, mit einem Spitznamen also, den er auch vergessen hatte. Sie waren sich in die Arme gefallen, nackt wie sie waren, bis die SS Aufseher sie mit Knüppelschlägen auseinandergetrieben hatten. Schläge, die noch zwei Wochen später schmerzten.
Sein Schulfreund hatte später eine Ausbildung zum Buchhändler gemacht. Er war in der Kleinstadt geblieben und bis zum Abtransport des jüdischen Teils der Bevölkerung Mitarbeiter der städtischen Bibliothek gewesen, während Paul Preller in Breslau das Studium der Kunst schon im zweiten Semester abgebrochen hatte. Er war nicht zum Künstler geboren, Paul Preller hatte schnell erkannt, dass nicht aus jedem Wollen auch ein Können werde.
Er wurde Kaufmann, ein junger Kaufmann mit einer großen Geschäftsidee. Schon während des Studiums war ihm klargeworden, dass sich für Kunst einerseits die wenigen Talentierten interessierten, doch den weitaus größeren Teil machten jene Sprösslinge aus gutem Hause aus, die nicht recht wussten, was sie im Leben anfangen sollten und sich daher dachten, Kunst sei ein nicht allzu schwieriges Betätigungsfeld, denn komme es am Ende nicht immer nur darauf an, den Leuten klarzumachen, was gute Kunst
Weitere Kostenlose Bücher