Letzte Haut - Roman
sei und was nicht? Bestand das wahre Talent aller erfolgreichen Künstler nicht eher aus dem Palavern über Kunst, denn im Verfertigen einer solchen? Paul Preller bestätigte den Sprösslingen beflissen ihre Ansichten, borgte sich von einigen von ihnen kleinere Summen und eröffnete mitten in Breslau sein erstes Geschäft: ‚Die Zukunft – Galerie für Erstlingswerke.‘
Zwar brachten ihm die untalentierten Kunststudenten mit ihren diffusen Lebensvorstellungen treu ihre Werke, ohne auf ein Honorar zu hoffen, jedoch ließ sich die Käuferschicht nur schwer davon überzeugen, dass dies gewinnträchtige Kunst war. Paul Preller musste schließlich auf Wochenmärkte ausweichen, die immer öfter sogar vor den Toren Breslaus lagen, bis er eines Tages an der Tür seines Geschäfts in der Altstadt ein Kärtchen fand, auf dem eine Bitte um Rückruf notiert war. Er rief diese Tochter eines dänischen Reeders nicht sofort an, Paul Preller behielt die Nerven. Er trommelte seine letzten Bekannten zusammen und ließ sie geschäftige Hintergrundgeräusche machen. In der Hoffnung, die Mietschulden der letzten Monate doch noch zu bekommen, beteiligte sich sogar der Vermieter mit zwei Angestellten, während Paul Preller die Dame aus Dänemark anrief.
Am nächsten Tag verkaufte er neunundzwanzig Bilder und vierzehn Kompositionen. Als Dank legte er noch zwei Lyrikbände obenauf und brachte die Frau um die Ende Dreißig, die selbst keine Kinder hatte und sich ein Sommerhaus neu und frisch einrichten wollte, persönlich zum Bahnsteig, von dem aus der Städteexpress nach Norden fuhr, weit in den hohen Norden.
Doch leider blieb dies das einzige Geschäft des Achtundzwanzigjährigen, wurde er doch nur eine Woche später mitten in der Nacht aus dem Bett gezerrt, auf die Ladefläche eines Lkw geworfen und einfach so aus der Stadt transportiert. Dabei hätte er gerne wenigstens der Mutter noch einen kurzen Brief geschrieben! Ob sie weiterhin glaube, er wäre über beide Ohren verschuldet? Vielleicht glaube sie, er hätte sich deswegen das Leben genommen? Seine alte, ängstliche Mutter, wie sehr er sie doch liebt; Paul Preller zittert, wie die anderen Insassen auch, vor Kälte und Nässe. Die Zähne schlagen ihm aufeinander, bis er begreift, dass er, er selbst, dass Paul Preller von dem SS Aufseher Möckel angeschrien wird. Er hebt den Blick, sehr langsam, aber schließlich muss er diesem verhassten Menschen doch ins Gesicht sehen, und ja, tatsächlich; aus! Alles aus! Möckel sieht ihn an! Möckel kommt auf ihn zu! Möckel schlägt ihm mit dem Knüppel die Mütze vom Kopf! Ihm! Aus! Alles aus.
Möckel nimmt mit dem Stockende die Mütze auf, geht zum Sperrgebiet und wirft sie hinein, bevor er schreit: „Los, Nummer fünftausendsechshundertachtundsiebzig, hol dir deine Mütze wieder!“
Paul Preller schüttelt stumm den Kopf, und sofort ist Möckel bei ihm, versetzt ihm einen Knüppelschlag gegen die Brust, während Lagerkommandant Pister sich im Wachzimmer interessiert ein wenig nach vorne neigt und die Augenbrauen noch oben zieht. Er mag keine Verzögerungen, und das weiß auch Möckel, der mit einer Serie von Knüppelschlägen auf Paul Preller einprügelt, der sich sofort fallen lässt, sich zusammenrollt und das Gesicht schützt.
Als er durch die Finger späht, weil das Schlagen aufgehört hat, schreit er entsetzt: „Nein! Nicht!“
Sein Schulfreund ist aus der ersten Reihe getreten und zum Rand des Sperrgebiets vor dem Stacheldrahtzaun gegangen. Direkt neben ihm prangt auf einem Schild: ‚Achtung Lebensgefahr! Bei Betreten der Sperrzone wird von der Schusswaffe Gebrauch gemacht! Achtung Lebensgefahr!‘
Paul Prellers Schulfreund dreht sich um und lächelt. Er schaut übers Lager und richtet den Blick zum Himmel. Der Regen klatscht ihm aufs Gesicht, der Scharführer ist neben ihm und versetzt ihm Schläge in die Kniekehlen. Der Mann fällt auf die Knie, während er laut betet, und zeigt lachend zum Himmel. Paul Preller sieht sich um, alle Häftlinge drehen sich um, und jeder sieht den hellen Schimmer am Horizont. Ein erster Sonnenstrahl, der sich schnell verbreitert und das Schwarz des Gewitters vertreibt. Leuchtend blau wird es werden! Schon bald werde alles leuchtend blau für ihn sein! Paul Preller ist sich sicher, dass diese Gewissheit das Lachen seines Schulfreundes ausdrücken soll. Noch einmal schreit er, der Freund solle es nicht tun, doch dann verstummt er, steht auf, stellt sich wieder in die Reihe und betet für seinen
Weitere Kostenlose Bücher