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Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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zu lassen. Die Gemälde, Ölbilder und Radierungen, die den restlichen Platz an den Wänden einnahmen, hatte er genauer betrachtet. Einige kamen ihm impressionistisch vor und also entartet. Und Klinger, sei das nicht ein Jude, hatte er sich gefragt.
    Angeschaut, jedoch hatte er nichts verändert und sich gesagt, er sei ja nur Gast hier. Lediglich ein Gast im Lager Buchenwald, ein ermittelnder Gast. Ein Spion also, und er hatte es auch für möglich gehalten, dass die Gestapo ihm diese Werke absichtlich ins Zimmer gehängt hatte, damit sie gegen ihn etwas in der Hand hätte, falls sie es bräuchte. Also, hatte er entschieden, belasse er einfach alles so, denn würde er es wegschaffen lassen, dann wäre er schon verdächtig, verdächtig und erpressbar. Nein, er wisse nur wirklich, wie die Bombe ticke, hatte er sich selbst versichert.
    Jetzt stand er am Wintergarten, sah hinaus, über die Wipfel der Buchen, und fragte sich, ob er Liebig zu hart angepackt habe, als er ihn vor wenigen Minuten angebrüllt habe, er solle sich niemals, nie wieder, in das Alltagsleben des Lagers mischen. Sie hätten ihre Arbeit hier unabhängig von den Bedingungen durchzuführen, aber ging das?
    Er hatte ihm sogar gedroht, Meldung zu machen, wenn er sich nicht endlich zusammenreiße und seine Aufgabe erledige.
    Mürrisch löste Schmelz die gelben Kordeln und zog die weinroten Samtvorhänge zu, weil plötzlich die Sonne von Süden her ins Zimmer drang. Er ging zum Beistelltisch, goss sich ein Glas Wasser aus der Karaffe ein, die dort auf einem silbernen Tablett stand, und trank es in einem Zug aus.
    Er durfte sich nicht ablenken lassen, um Gotteswillen, er durfte sich nicht ablenken lassen! Das war alles nicht zu ändern, was da draußen vor sich ging, und daher betraf es ihn nicht. Schmelz musste sich auf seine Sache konzentrieren, und nur das war für ihn wichtig. Ganz alleine das! Er musste diese zweite Chance, die ihm das Schicksal gegeben hatte, nutzen, und genau das musste auch Liebig endlich verstehen! Entweder er verstehe es, oder er werde abberufen, Schmelz war sich da sicher. Er konnte sich keine weiteren Gefühlsausbrüche mehr leisten. Er musste handeln und durfte nicht zweifeln, denn war es etwa nicht so, dass der Zweifelnde nur selten handelte? Doch, war so! Entschlossen goss der Obersturmführer sich noch ein Glas ein, trank es im verdunkelten Zimmer aus und ging zum Telefon, während Lagerkommandant Pister zur gleichen Zeit das Wachpostenzimmer betrat.
III
    Das Wachpostenzimmer befand sich über dem Tor zum Inneren Lager. Von ihm aus konnte die Waffen SS durch Fensterscheiben, die die gesamte Front einnahmen, über den Appellplatz und über die vielen, langen Reihen der Baracken hinweg bis zum gegenüberliegenden Zaun sehen, wo sich ebenfalls Wachtürme befanden, in denen Männer der Waffen SS saßen und Wache hielten. Zwischen den Türmen standen alle zwölf Meter hinter dem Zaun weitere Bewacher mit entsichertem und schussbereitem Gewehr. Sie hatten Befehl, sofort zu schießen, wenn ein Häftling ins drei Meter breite Sperrgebiet vor dem Zaun eindrang. Große Schilder warnten in sieben Sprachen, es werde sofort geschossen, falls jemand sich dem Zaun zu dicht nähere. Somit war dies die letzte Möglichkeit, dem Grauen zu entfliehen. Man wählte den Freitod. Doch wurden auch viele unliebsame Insassen ins Sperrgebiet gestoßen, woraufhin die Wachen sofort mit kurzen Feuerstößen Gebrauch von der Waffe machten. Diese Praxis werde ‚auf der Flucht erschossen‘ genannt. Doktor Kurt Schmelz hatte dies nicht etwa von einem Mann der Waffen SS erfahren, er hatte es von einem Häftling gesagt bekommen, den er unter vier Augen befragt hatte. Leider wollte dieser Insasse seine Aussage nicht schriftlich machen, er wollte noch nicht einmal ein Befragungsprotokoll unterschreiben. Wieder kannte Schmelz ein wichtiges Detail mehr, konnte es aber nicht beweiskräftig verwenden. Es war doch zum aus der Haut fahren! Schmelz wusste jetzt zwar, was mit den Insassen geschah, die von der Korruption zu viel wussten oder zu viel von ihr profitiert hatten, aber was nutzte ihm dieses Wissen schon? Er zermarterte sich auch an diesem Mittag in seinem Arbeitszimmer, weit entfernt vom Inneren Lager, das Hirn, bevor er eine Telefonnummer wählte, während Lagerkommandant Pister mit seinem Adjutanten, Standartenführer Günter Tamaschke, ins Wachpostenzimmer kam und die Meldung des Diensthabenden entgegennahm.
    „So, so, keine besonderen Vorkommnisse

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