Letzte Haut - Roman
Retter.
Paul Prellers Lebensretter kriecht auf den Knien in die Sperrzone, die Wache schreit vorschriftsmäßig, er solle anhalten, zweimal schreit sie, während Scharführer Möckel ihn antreibt, er solle schneller machen. Dem Mann gelingt es, bis zur Mütze zu kommen, er kann sie sogar noch zur Mitte des Appellplatzes werfen, ehe ihm Gewehrkugeln den rasierten Schädel zerfetzen und er auf den Rücken fällt.
Zwei Mann der Totenkopfstandarte, aus der die Postenkette gebildet ist, gehen zum Leichnam, fassen ihn an den Handgelenken und schleifen ihn über den Platz, schleifen ihn durch den Schlamm zum Krematorium.
An den Handgelenken, denkt Paul Preller wie von Sinnen, die mir das Leben gerettet haben! An den Handgelenken.
Die winzige Pause hat er genutzt, um zu seiner Mütze zu hetzen und sich sofort wieder in die zweite Reihe zu stellen. Mit der Insassennummer fünftausendsechshundertachtundsiebzig auf der Brust. Doch nun steht niemand mehr vor ihm: ‚Erste Reihe – Todesweihe!‘
Und ausgestanden ist nichts. Erschrocken sieht Paul Preller, wie Scharführer Möckel auf ihn zukommt. Gerade wird er von ihm angebrüllt, er glaube wohl, davongekommen zu sein, als es dem Lagerkommandanten Pister doch ein wenig zu kalt wird und er, obwohl ein Aufklaren des Himmels zu beobachten ist, den Appell beendet und die Männer wegtreten lässt.
Und während ich monatelang mit der Spitzhacke den Boden dort aufriss, die Wachen schreien hörte und mir die Totengrimasse meines Retters trotz aller Erschöpfung nicht aus dem Kopf ging, schwor ich mir, den Namen meines Schulfreundes zu pflegen und zu hüten. Seit jenem Tag spreche ich ihn jede Nacht vor dem Einschlafen aus, leise, damit er von niemandem gestohlen werden kann, und so hat dieser Heilige mir noch lange nach seinem Tod das Leben gerettet, weil ich ja überleben musste, um seinen Namen zu pflegen und zu ehren, hatte Paul Preller zu Kurt Schmelz gesagt, als sie während eines Prozesses als Zeugen in einem Nebenraum saßen und auf ihren Aufruf warteten.
„Und mir wollen Sie den Namen auch nicht sagen?“, hatte Schmelz gefragt: „Nicht einmal die Lagernummer?“
Als wäre es gestern gewesen! Der zweiundsiebzigjährige Schmelz hatte das Gesicht Prellers plötzlich vor Augen, während er immer noch auf dem Stuhl im Flur saß und den Boden des Niemandslandes seiner Wohnung anstarrte. Ein geschundenes Gesicht, in dem plötzlich die Augen aufleuchteten und der Blick zum Himmel fand, obwohl dort nur die feuchte und graue Deckenwand war, von der der Putz abfiel.
Der alte Schmelz fuhr sich kräftig mit den Fingernägeln über den nackten Arm und schaute teilnahmslos dem Bluten zu.
V
In der Nacht des fünften Juli dreiundvierzig begann bei Kursk die letzte deutsche Großoffensive an der Ostfront, dachte der zweiundsiebzigjährige Schmelz auf dem Flur seiner Frankfurter Wohnung: Mit dreitausend Panzern und Sturmgeschützen versuchten die Heeresgruppen Mitte und Süd, unterstützt von der Luftwaffe, den bogenförmigen Frontverlauf um dreihundertdreißig Kilometer abzukürzen und zu begradigen, während ich mit Tarnat und Liebig die Verhaftung Karl Kochs vorbereitete, den skrupellosen und gefährlichen Standartenführer Karl Koch, der dank seiner Beziehungen zu einem der mächtigsten Männer in der SS geworden war.
Gegen Mittag, im Lager wurde gerade Paul Prellers Schulfreund ermordet, hatte sich Kurt Schmelz entschlossen, den Angriff zu wagen. Er hatte weder seine Vorgesetzten informiert, noch hatte er besondere Vorkehrungen getroffen. Mit einem kurzen Anruf hatte er lediglich seine Kollegen zu sich bestellt, um durch das Schaffen von Tatsachen den Lauf der Dinge zu beschleunigen und nach Tagen des Stillstands endlich Ergebnisse zu erzielen. Er stand wenig später in der Poststation des Lagers, als ihm der Angriffsplan noch einmal durch den Kopf ging und er die Risiken einzuschätzen versuchte.
Er fragte sich, ob er das Lager gründlich genug inspiziert habe, ob er auch keinen Winkel ausgelassen habe, ob er die Bücher gründlich genug geprüft habe und ob er die Männer der SS Wachmannschaft eingehend genug befragt habe. Hatte er alles gründlich genug gemacht? Ja, darauf konnte er eindeutig mit einem Ja antworten, nur gefunden hatte er noch nichts. Vorerst noch nichts. Auf Indizien war er gestoßen, immer wieder nur auf Indizien, nie aber auf einen konkreten Hinweis, der den Anfangsverdacht gegen Karl Koch untermauern konnte.
Doch was hatte er während des Studiums
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