Letzte Haut - Roman
also“, sagte er: „Wie ist die Tagesstatistik?“
„Sieben auf der Flucht erschossen, Standartenführer, zwei Freiwillige, fünf auf Befehl vom Aufseher des Arrestbunkers. Zwölf Herzversagen meldet die Krankenabteilung. Und das Krematorium bittet um vier Stunden Aufschub“, erstattete der diensthabende Offizier Bericht.
„Abgelehnt! In sechs Stunden kommt der nächste Transport, was glauben die denn? – Bringen Sie mir und Tamaschke lieber eine schöne Tasse Pfefferminztee!“
Pister trat mit seinem Stellvertreter ans Panoramafenster und blickte über das menschenleere Lager. Es war fünfzehn Minuten vor zwölf an diesem regnerischen Tag Anfang Juli. Gerade war ein Schauer übers Lager hinweggefegt, im Sand glänzten noch viele Pfützen, und all die kleinen Blumen, die in Beeten den Appellplatz säumten, ließen die Köpfe hängen. Pister sah zum Himmel, der schon wieder von Osten her ganz schwarz wurde. In der Ferne zuckten Blitze, doch ein Donnern hörte er nicht. Die Wipfel der Bäume, die sich hinter dem Lager befanden, wurden von einem starken Ostwind niedergedrückt. Nichts konnte Pister heute von den Bergen erkennen, die hinter dem Buchenwald und dem Tal lagen, nichts von den Bergketten am Horizont, die er so liebte. Seit Tagen ging das nun schon so! Kommandant Pister war es, als habe der Wetterumschwung mit dem Erscheinen Schmelz’ zu tun.
Er war kein abergläubiger Mensch, aber erstaunt war er schon manchmal über die Gleichzeitigkeit verschiedener Dinge. Dabei war er doch von Hause aus Physiker! Pister musste über sich selbst grinsen, als die ersten Tropfen gegen das Fenster schlugen.
„Dieser Schmelz, der macht mich noch ganz verrückt“, sagte Pister, ohne Tamaschke anzusehen, ehe er befahl: „Scheinwerfer an!“
Sekunden später flutete grelles Licht über den Platz, das aus sechs verschiedenen Quellen kam.
„Hoffentlich bleibt er nicht mehr lange“, sagte Tamaschke, nahm die beiden Tassen Tee in Empfang, die ihm der Diensthabende hinhielt, und gab diesem zu verstehen, er brauche Zucker, Zucker und Milch.
„Der geht erst, wenn er hat, was er will“, sagte Pister: „Die Ehrlichen sind die Gefährlichen, denken Sie an meine Worte, Tamaschke. Wenn ich daran denke, wie der hier rein marschiert ist! Kein Blatt vor dem Mund. Hier bin ich, und ich bin der Größte, Arschloch! – Wenn man nur wüsste, was der hier will.“
Tamaschke nahm einen Schluck vom heißen Pfefferminztee und sagte: „Dann könnte man reagieren, aber so! Ohne Aktion keine Reaktion, wie wir beim Studium gelernt haben.“
„Genau, Tamaschke, zum Glück gibt es die Physik!“, sagte Standartenführer Pister, sah auf die Uhr, hob die linke Hand und drehte mit dem Zeigefinger ein paar Mal in der Luft.
Sofort griff der diensthabende Offizier nach dem Mikrofon, schaltete es ein und brüllte: „Antreten zum Mittagsappell!“
Wie ein Rudel verwilderter Hunde stürmte die gesamte Wachmannschaft über den Appellplatz, um mit Knüppeln gegen die Wände der vielen Holzbaracken zu schlagen. Sofort wurden die Türen von den Barackenältesten aufgestoßen. Sie rannten zum Platz, hinter ihnen die gesamte Barackenbelegschaft, während der diensthabende Offizier durch die Lautsprecher die verbleibenden vier Minuten herunter zählte. Er mochte diese kurze Spanne vor zwölf Uhr, zählte ein wenig schneller und erfreute sich am Rudel, das das Wild einmal mehr gestellt habe, wie er meinte. Es schien ihm, als hörten all die Männer der Waffen SS nur auf sein Kommando, und in Gedanken gab er ihnen Hundenamen und teilte sie in verschiedene Rassen ein.
„Und zwölf Uhr – Punkt!“, schrie er mit sich überschlagender Stimme, während ihm der Schwanz steif wurde.
Die Männer drängten jene Häftlinge vom Appellplatz in eine Ecke, die es nicht geschafft hatten, bis zwölf Uhr in Reih und Glied zu stehen, und erschossen sie mit ihren Pistolen. Die Belegschaft des Krematoriums stand schon bereit, um die Leichen wegzukarren, während der diensthabende Offizier hinter dem Lagerleiter und seinem Stellvertreter mit verklärtem Blick dastand und das Herausspritzen des Samens genoss.
„Untersturmführer Dörr, machen Sie schon!“, sagte Kommandant Pister, ohne sich umzudrehen.
Mathias Dörr, zweiundzwanzig Jahre und Bäckergeselle aus Hohenzelle bei München, räusperte sich und befahl den Insassen, stillzustehen. Unterwürfig goss er seinen Vorgesetzten Tee nach und überreichte dem Lagerleiter das Mikrofon.
Wie jeden Mittag hielt
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