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Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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Pister seine Ansprache, in der er zuerst die Zigeuner beschimpfte, dann die Juden, die Homosexuellen, die Kommunisten, die Sozialdemokraten und zuletzt die Gefangenen aus anderen Völkern. Er öffnete eines der Fenster, fuhr mit ausgestrecktem Arm über die Köpfe der siebenundneunzigtausend Häftlinge langsam hinweg und zeigte schließlich auf einen jungen Juden.
    Pister schloss das Fenster schnell wieder, schüttelte sich und bat seinen Stellvertreter, ihn weiter mit Tee zu versorgen. Heißen Tee und ein wenig Gebäck. Die Regentropfen knallten plötzlich gegen die Scheiben, und Pister wich erschrocken einen halben Schritt zurück.
    Tamaschke winkte Dörr, der sofort mit einem Teekessel heißen Wassers kam und den dritten Aufguss machte.
    „Wie stinken Sie denn, Mann!“, sagte Tamaschke und starrte Dörr in die braunen Augen: „Wie ein abgewichster Fischerstiefel! Mann, gehen Sie baden, verstanden?“
    „Verstanden“, sagte Dörr und senkte den Blick. Ihm stieg die Scham rot ins Gesicht.
    „Mann, Dörr! Nehmen Sie sich endlich eine Freundin, oder sind Sie auch so ein scheiß Perverser wie unser Sommer?“, hakte Tamaschke nach. Er grinste, bis er begriff, dass er ins Schwarze getroffen hatte: „Sie, Sau, Sie! Drecksau!“
    „Sau kommt von sauber“, sagte Pister ein wenig abwesend und fuhr fort: „Wenn ich nur wüsste, was Schmelz will! Was Kaltenbrunner will! Was dieser senile Erbprinz mit seinen knapp fünfzig Jahren noch will! Der soll uns in Ruhe lassen und nicht so tun, als wäre er die Unschuld vom Lande, was Tamaschke?“
    „Genau richtig, Standartenführer! Kennen Sie eigentlich die Geschichte mit der Kriegsverletzung des Waldeck Pymont? Ich meine, die wahre Geschichte?“
    „Nein, die wahre wohl nicht? Ich kenne nur die offizielle. Im ersten Krieg hat er einem seiner Untergebenen die eigene Gasmaske gegeben und deshalb hat er das Eiserne Kreuz erster Klasse und die Lungenverletzung erhalten“, sagte Pister.
    „Von wegen! Es ist durchgesickert, dass er besoffen war, als die Franzosen angegriffen haben. Die sprühen also Giftgas, der Wind kommt auch noch günstig, alle Soldaten der Einheit haben schon die Masken auf, nur der Kommandant, besoffen wie unser Erbprinz nun mal ist, findet seine eigene Maske nicht. Guter Rat teuer? Von wegen! Billig wie Kuhscheiße! Er reißt einfach einem seiner eigenen Soldaten die Gasmaske vom Kopf und zieht sie sich über. Dessen Lunge natürlich sofort verätzt, und die von Waldeck Pymont lediglich angeschlagen. Die Hälfte eines Lungenflügels weg, damit lässt sich leben! – Ja, Standartenführer, so dreht man am Rad der Geschichte, was? – Stellt sich heute als tapferer Kriegsveteran dar, der Alte! Und in Wirklichkeit sowas!“, sagte der Stellvertreter und nahm einen winzigen Schluck vom Tee. Heiß war ihm, er schwitzte in der Uniform, obwohl der Ostwind das Wachzimmer doch auskühlte.
    Die perfekte Mischung, dachte er, sich eine Sommergrippe einzufangen. Nachher sofort schön einen Grog und erst einmal ab in die Sauna.
    „Und woher haben Sie dieses kostbare Wissen, mein lieber Tamaschke? Sie überraschen mich ja immer wieder aufs Neue!“, sagte Standartenführer Pister und rümpfte die Nase über den vielen Regen. Wie aus Eimern prassele er auf die Häftlinge herunter, meinte er und sah zufrieden auf sie herunter. Nicht einer, der sich rührte, nicht einer!
    „Na, von einem seiner Soldaten hab ich’s. Der war damals Gefreiter unter ihm, und später wurde er mein alter Herr. – Dörr, Sie sollen verschwinden! Und die Stelle hier oben sind Sie erst einmal los! Sie werden degradiert. Sie sind bei Sommer besser aufgehoben, unten im Arrestbunker; ab!“
    Der Teekessel fiel polternd zu Boden, ehe Dörr verstört eine Entschuldigung murmelte und aus dem Wachzimmer verschwand.
IV
    Die Insassen stehen der Größe nach geordnet in fünf Reihen zu je zwanzig Mann immer noch auf dem Appellplatz und halten weiter den Blick gesenkt. Der dünne Stoff der Häftlingskleidung klebt ihnen an den vom Hunger ausgezehrten Leibern, und noch immer regnet es in Strömen. Die Knochen der Oberschenkel werden sichtbar, die Rippen und die Schulterblätter. Krampfhaft unterdrücken die Männer das Niesen und Husten. Nur jetzt nicht nach oben sehen, das ist das einzige, was ihnen durch den Kopf geht, nur ja jetzt nicht auffallen. Nur ja jetzt überleben.
    Paul Preller, der junge Jude, auf den Pister vom Fenster aus gezeigt hat, steht in der zweiten Reihe, vierter von links. Vor ihm

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