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Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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Vierundzwanzigjährigen, aber dieser wich dem Blick nicht aus. Er hatte nichts zu verbergen! Schmelz war sich schon jetzt sicher, alle Möglichkeiten zur Milde ausreizen zu wollen, sofern sich keine neuen Verdachtsmomente ergaben.
    Er hatte auch davon gehört, dass schöne Menschen leichter durchs Leben kamen. Ihnen wurde mehr Gehalt bezahlt, es taten sich ihnen mehr Möglichkeiten auf, es wurde mehr Rücksicht auf sie genommen, es wurde ganz einfach mehr für sie getan. Schöne Menschen verkörperten die Zukunft. Sie wurden öfter positiv überrascht, und es war ihnen ein Leichtes, optimistisch zu sein, aber Schmelz wollte nicht recht glauben, dass dies alles wirklich zutraf. Die Natur des Menschen konnte doch nicht so auftrumpfen! Die ganze Zivilisation hätte ja dann gar nichts gebracht, wenn die Menschen noch immer so entschieden, wie es der natürliche Trieb für richtig hielt: Schöne Menschen mussten bevorzugt werden, weil sie den Erhalt der Rasse sicherten, denn Schönheit signalisierte Gesundheit und Gesundheit deutete auf Stärke. Und die Starken bekamen in allen Tiergruppen zuerst zu fressen. Wenn die Menschengruppen also ihren Schönlingen noch immer hörig seien, meinte Schmelz, dann habe es so gut wie keine Entwicklung des Bewusstseins gegeben.
    Vielleicht, dachte er, ist es von der Natur gar nicht vorgesehen, dass alle Menschen Nachkommen haben. Vielleicht ist Nachkommenschaft eine Auszeichnung der Natur, die einfach nicht jedem zusteht? Vielleicht steht sie mir gar nicht zu? – Aber da wären wir ja schon wieder bei der leidlichen Rassenfrage, die so schwachsinnig ist, dass nur die Dümmsten der Dummen ihr etwas abgewinnen können. Kein Tier der Welt tötet ein anderes nur des Aussehens wegen, aber wir Menschen erfinden uns frei und fröhlich ganze Religionen, nur um das Töten zu rechtfertigen. Religion aber ist keine Rechtfertigung, Religion ist nur eine Möglichkeit, und zwar eine ziemlich beschränkte. Eine erpresste. – Und Mittenmang, du Narr, du hast nun also mit einer Polin geschlafen, als hättest du vom Gesetz der Rassenschande noch nie etwas gehört! – Ach, diese Jugend, dachte Schmelz, der gerade einmal sechs Jahre älter als der Angeklagte war und sich ein Grinsen mühsam verkneifen musste.
    Der Untersturmführer war groß und kräftig, die Uniform saß ihm tadellos. Er trug das blonde Haar akkurat gescheitelt, die grünen Augen sahen Schmelz noch immer offen und weich an. Die Mütze trug er vorschriftsmäßig unterm linken Arm, und nichts deutete darauf hin, dass er Angst hatte. Schmelz sah einen Kämpfer vor sich. Was war eigentlich mit den Schönlingen, die noch gar nicht mitbekommen hatten, dass sie schön waren? Die Reinen, die Unschuldigen, die Verkörperungen der vielen Sehnsüchte? Sie waren die Mitte, die heilige Mitte, die niemals geopfert werden durfte. Doktor Kurt Schmelz räusperte sich und vergewisserte sich innerlich noch einmal, strikt nach den Paragraphen Recht zu sprechen, unabhängig von Stand und Ansehen der Person. – Doch genau da hatte er die Problematik mit der Schönheit schon wieder, pragmatisch gesehen, ganz offen in einer ewig gültigen Floskel, Ansehen, das Ansehen! Schmelz glaubte, das Thema für eine Abhandlung gefunden zu haben, die ihm weltweit in Juristenkreisen Achtung verschaffen werde. Über dieses Thema wolle er forschen, in Friedenszeiten. Schnell notierte er sich als Stichwort ‚Ansehen unabhängig von der Person‘ und blickte auf.
    Immer noch stand Offizier Mittenmang ruhig, ernst und schön da. Aber war er eine heilige Mitte, in der das kostbare Gut einer Gemeinschaft versenkt war? Einer Familie? Einer Sippe? SS Richter Schmelz räusperte sich erneut.
    „Sie brauchen also keinen Verteidiger?“, fragte er nach, riss sich vom Blick des Jünglings los und taxierte kurz die beiden beisitzenden Richter, die doppelt so alt waren wie er selbst und im Hauptberuf als Bibliothekare arbeiteten. Sie zuckten skeptisch mit den Schultern, und Schmelz fragte sich, was aus ihm wohl würde, wenn es genug junge Richter gäbe, denn noch seien die meisten, die im Reich eingesetzt werden sollen, in der Ausbildung. Was werde wohl aus ihm, wenn man erst einmal genügend politisch zuverlässige Richter habe? Dann müsse er seinen Platz schon gesichert haben, vermint und gut bewacht. Noch sei das Reich auf jeden Richter angewiesen, der vorhanden sei, aber wie lange noch? Er habe keine Zeit zu verlieren.
    Korruption bleibt in allen Staaten strafbar, da mach dir mal

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