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Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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Nicht verurteilt wegen Rassenschande, nicht verurteilt wegen Hochverrats! Das Schicksal musste es gut mit ihm meinen! Sollte er für größere Aufgaben auserwählt sein? Er wandte sich seinen Kameraden zu, die alle aufgestanden waren und applaudierten.
    Sie grinsen, dachte Schmelz, als hätten sie Russland schon erobert. Er bereute die Entscheidung nicht, denn er war sich sicher, diese Männer da werden beim nächsten Angriff nur noch dankbarer für ihr Vaterland losstürmen. Schmelz glaubte an sie, so wie er auch wieder an sich selbst glaubte.
    Gott wird es dir danken, wollte Mittenmang dem Richter zurufen, besann sich dann aber und sagte: „Der Führer wird es Ihnen danken!“
    Schmelz nickte, er hatte genau verstanden, was der Mann hatte sagen wollen, und erwiderte in Gedanken, der Herr sei gelobt, in Ewigkeit, Amen.
    Er packte die Akten zusammen, stand auf und sagte: „Ich erkläre die Sitzung hiermit für beendet. Der nächste Fall in zwanzig Minuten. Strafsache Kindsmord.“
    Gerade wollte er gehen, als der Ankläger auf ihn zukam und ihn zurückhielt: „Auf ein Wort! Sie haben mich ja gar nicht zu Wort kommen lassen! Hätte ich nicht wenigstens meine Anklage vorbringen müssen und hätte mir nicht ein Verhör zugestanden?“
    „Das liegt ganz im Ermessen des Gerichts. Die Anklageschrift kannte ich bereits, sie lag mir ja vor. Und zum Verhör konnte es nicht kommen, weil der Angeklagte faktisch freigesprochen wurde. Die Anklagepunkte waren sowieso an den Haaren herbeigezogen. Nicht ein einziger Beweis, das wissen Sie doch besser als ich! – Die Polin ist noch immer Jungfrau, also was? Gibt es nichts Wichtigeres?“
    „Ja, das weiß ich auch, und ich halte das Urteil ja auch nicht für überzogen, aber Sie hätten mich doch wenigstens in den Prozess mit einbeziehen müssen, junger Mann. So sehe ich nun keine andere Möglichkeit, Berlin davon in Kenntnis zu setzen. Es tut mir leid!“
    „Tun Sie, was Sie nicht lassen können“, sagte Doktor Schmelz leichthin und verließ den Saal, während sich die beiden Beisitzer bei Staatsanwalt Euphe versicherten, richtig gehandelt zu haben. Sie hätten gegen die Bewährung nichts unternehmen können, und sie wären auch nicht in der Lage gewesen, im Sinne der Staatsanwaltschaft zu handeln. Sie wären ja nur stumme Beobachter, und ohne eine Frage des vorsitzenden Richters an sie in den Prozess einzugreifen, das wäre doch ein Verfahrensfehler gewesen? Oder nicht? Sie sahen ihn unterwürfig an, und diese Blicke waren schon eher nach seinem Geschmack.
    Staatsanwalt Euphe sagte: „Keine Sorge, meine Herren, keine Sorge! Ich halte Sie aus dem Bericht heraus, aber wenn sich herumspricht, dass ein deutscher Offizier einfach so eine Polin flachlegen konnte, ohne dafür bestraft zu werden, dann zieht das doch Kreise bei den jungen Offizieren an der Front. Und erst bei den Soldaten! Dann tötet da doch keiner mehr die Männer, wenn er die Frauen vergewaltigen darf! Darum geht’s doch wohl, oder?“
    Staatsanwalt Euphe ging sofort in sein Arbeitszimmer, verfertigte einen ausführlichen Bericht, adressierte ihn ans Justizministerium und gab ihn in die Abendpost. Sechs Tage später wurde in Deutschland die allgemeine Haftpflichtversicherung für Autofahrer und Jäger eingeführt, und am Tag darauf kam es in München am achten November neununddreißig zu einem Attentat auf den Anführer der Deutschen, der aber nicht getötet wurde.
    Doktor Kurt Schmelz, mein Großvater also, war am nächsten Morgen auf dem Weg nach Lublin. Die Strecke Krakau – Lublin war überfüllt mit Menschen. Überall saßen sie an der Straße, in größeren und kleineren Gruppen. Viele von ihnen hatten Lagerfeuer gemacht. Auf leeren Feldern, auf Wiesen, in Senken und auf Hügeln, bis zum Horizont erstreckte sich der Feuerteppich. Wie viele Menschen, dachte Schmelz im Auto sitzend, und trotzdem eine solche Stille. Eine so unheimliche Stille.
    Er sah den Sternen zu, wie deren Schein immer schwächer wurde, bis schließlich ein bläulicher, grünlicher Schimmer am Horizont auftauchte, der rot wurde und dann gelb und blau. Das Licht der Lagerfeuer war verschwunden, stattdessen sah Schmelz das Grau, das gar keine Farbe sei, wie er meinte. Es war ein Grau in den Gesichtern, auf der Kleidung, es legte sich über die Gegenstände, und selbst auf dem Grün der Wiesen fand Schmelz diese dünne Schicht Grau, die er erst für Staub hielt. Aber es sei kein Staub, es sei eine riesige Hoffnungslosigkeit, die sich da

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