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Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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ausbreitete und alles niederzudrücken schien, meinte er.
    Kurt Schmelz heftete den Blick wieder auf den Nacken seines Fahrers und erneut stellte er fest, dass er nichts fühlte; rein gar nichts. Er sah zwar das Elend da draußen, aber es drang nicht zu ihm durch. Er sei eben der Sohn eines Mannes, der nicht existiere und doch anwesend sei, meinte er, der Sohn eines Geistes also.
    Ihm ging der ‚Fall Dirlewanger‘ nicht aus dem Kopf. Jetzt hatte er ihn schon in einen Fall verwandelt, dabei war doch noch gar nichts sicher! Reines Wunschdenken. Halte dich lieber an die Fakten, alter Fuchs, halte dich an die Fakten, dachte Kurt Schmelz, ehe er ein wenig nach vorne gedrückt wurde, als der Chauffeur sanft bremste, einen Halbkreis fuhr und vor dem ehemaligen Rathaus der Stadt Lublin zum Stehen kam. Der Fahrer sprang heraus, öffnete ihm die Tür und grüßte, während Schmelz einen halben Gruß erwiderte, die Stufen hochstieg, seinen Ausweis zeigte und durch die gewaltige Flügeltür schritt, die von zwei jungen Gestapomännern aufgerissen wurde.
    Beim Empfang erkundigte er sich nach dem Zimmer des Chefs, erfuhr, dass er schon erwartet werde, nickte und schritt kurz darauf grüßend auf den Chef der Lubliner Gestapo zu.
    „Sie haben doch sicherlich noch nicht gefrühstückt?“, fragte Hauptsturmführer Johannes Müller: „Da dachte ich mir, wir können diese leidliche Sache auch genauso gut bei einem ordentlichen Frühstück besprechen. – Siebert, keine Störungen jetzt und schließen Sie die Tür von außen! Abflug!“
    „Danke“, sagte Schmelz und fügte hinzu, er habe tatsächlich noch keine Zeit gehabt, einen Bissen zu sich zu nehmen.
    „Einen Bissen?“, fragte Müller erstaunt: „Hier werden keine Bissen verteilt! Hier werden nur die edlen Sachen aufgetischt, schließlich haben wir lange darauf verzichten müssen, was, Schmelz! Wenn ich nur an die Inflation denke, was wir – mögen Sie Kaviar? Es ist zwar nicht der russische, noch nicht, aber was nicht ist, hat ja nur den Nachteil, dass es erst noch kommt, oder was meinen Sie? Die Sowjets nehmen wir uns doch auch noch zur Brust! Die putzen wir so etwas von weg, meinen Sie nicht? – Hier, nehmen Sie Kaffee. Aus Italien! Das können die Brüder da unten, was? Das können die ja. – Wenn ich da an unseren schnöden Gerstenkaffee von damals – wir Deutschen müssen uns erst wieder an die Lebensqualität gewöhnen, meinen Sie nicht, Schmelz? Schluss mit dem Verzicht.“
    Einen Moment aßen die beiden Männer schweigend. Die Toasts knackten. Französischer Käse lag neben aufgeschnittener ungarischer Salami. Konfitüre aus Spanien, und in einer großen Silberschüssel mitten auf dem Tisch lagen Bananen, Feigen, Apfelsinen und Stücke einer Honigmelone. Der Kaffee dampfte aus einer edlen Porzellankanne, und Schmelz nahm sich gerne noch eine weitere Tasse. Er deutete mit der Kanne auf die Tasse seines Gastgebers, der beiläufig nickte, während er mit feuchten Lippen herzhaft in einen Buttertoast biss, wobei ihm ein Klecks der Sauerkirschkonfitüre auf den Teller fiel, den er sorgsam mit dem Finger aufnahm und ableckte.
    „Hiergeblieben“, nuschelte er und nahm einen weiteren Klecks mit einem der Silberlöffel auf. Schmelz vermied es, in den offenen Mund zu blicken, der ihm so schamlos hingehalten wurde. In einem fetten Gesicht ein zufrieden grinsender Mund, in dem zerkautes Essen liegt, das ist widerlich, dachte er.
    „Noch etwas Leckeres? Melone? Alles da! Zu leben haben diese Juden schon verstanden, das muss man ihnen lassen! Alles da! Ein Stück Schweizer Schokolade? Nein? Na, ich nehme noch eins zum Kaffee, ich mag es einfach, ein Essen mit einem Mokka und einem Stück Schweizer Schokolade abzuschließen, daran habe ich mich schnell gewöhnt, sehr schnell!“, sagte Müller und erhob sich: „Nur schade, dass mein alter Herr immer noch in dem Dreck malocht. Ruhrpott! Der hat noch nie etwas von einer Honigmelone gehört! Na ja, egal!“
    Er streckte sich, was Schmelz ihm nachmachte, ehe sie mit den Tassen und der kleinen Schale, in der sich Schokolade und Konfekt befand, zur Sitzecke des riesigen Zimmers gingen, die in einer Veranda untergebracht worden war. In der Mitte stand ein kleiner, runder Tisch auf graziös geschwungenen Beinen, links und rechts befanden sich klobige Ledersessel, von denen aus sie einen schönen Blick durch die niedrigen Fenster über einen Stadtpark hatten, in dessen See Schwäne schwammen. Schmelz konnte sich erst nicht

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