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Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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ist. Mehr konnte ich nicht für Sie tun! Immerhin besser als Konzentrationslager, oder? Ich denke, Sie werden schön den Russlandfeldzug mitmachen, ich habe läuten hören, dass er bald losgeht, damit die Männer Weihnachten wieder zu Hause sein können, Schmelz!“
    „Welches Weihnachten“, entfuhr es Schmelz, der nicht genau zugehört hatte.
    „Welches Weihnachten? Sie Scherzbold! Immer für einen Witz gut, unser neuer Sturmmann!“
    Als Grund für diese Maßnahme wurde die Verhandlung gegen den Untersturmführer Mittenmang angegeben, der vom Vorwurf der Rassenschande und des Hochverrats trotz eindeutiger Beweise, wie die Beisitzer und der Staatsanwalt eidesstattlich erklärt hatten, freigesprochen worden war, was Kurt Schmelz wiederum als Sabotage eines Reichsführerbefehls ausgelegt wurde, doch Doktor Kurt Schmelz wusste, dass Obergruppenführer Berger das alles eingefädelt hatte, um ihn loszuwerden. Seine Ermittlungen im Fall ‚Dirlewanger‘ seien schuld, er habe sich damit mächtige Feinde geschaffen, glaubte er, so mächtige, dass selbst das Gesetz nicht gegen sie ankomme. Ihm war, als wache er auf.
    Und schlagartig wurde ihm klar, was er falsch gemacht hatte: Er hatte es versäumt, sich mit mächtigen Fürsprechern zu versorgen. Zuerst hätte er diese finden müssen, sie waren der Schlüssel zum Erfolg. Der Erfolg selbst war dann nur noch eine Variable.
    Der Mann, der ohne Vater aufgewachsen war und somit nichts von väterlichem Schutz und Sohnespflicht wusste, musste sich eingestehen, dass seine Erziehung durch Frauen gründlich fehlgeschlagen war. Es gab Regeln unter Männern, und diese Regeln kannte er nicht. In erster Linie bedeutete Karriere zu machen und Beziehungen zu knüpfen, sich ins Geflecht zu binden, doch er, Trottel, der er war, hatte von Beziehungen nun überhaupt keine Ahnung. Das Fachliche war lediglich eine Voraussetzung, aber es war keine Notwendigkeit. Regeln, unter Männern gab es also Regeln. Regeln, die er aus Dummheit missachtet hatte, aber Dummheit war keine Entschuldigung. Schmelz schaffte es nicht, den Blick zu heben. Er fühlte sich alt.
    Nun sollte er also erst einmal das Marschieren lernen. Die erste Regel wahrscheinlich, die erste und wichtigste unter Männern. Kurt Schmelz holte tief Luft und stieß sie hörbar aus, während zur selben Zeit der Hitlerstellvertreter Heß in England abstürzte.
    Kurt Schmelz wurden vor versammelter Mannschaft die Schulterklappen abgerissen, Krüger las den Versetzungsbescheid und die Gründe für die Degradierung vor, doch nach dem Befehl, wegzutreten, blieb Kurt Schmelz als einziger auf seinem Platz und brüllte rechthaberisch wie ein Muttersöhnchen: „Was Recht ist, muss aber Recht bleiben!“
    „Das Leben ist kein Gesetzestext“, kam es von irgendwoher zurück.
    In einer selten gewordenen Sitzung des Reichstages berichtete der Anführer der Deutschen in diesem Mai einundvierzig über den Sieg auf dem Balkan. Er nannte Churchill einen Säufer und Kriegshetzer, und Heß nannte er geistig verwirrt. Er beschrieb die Deutschen als allen anderen Mächten militärisch, wirtschaftlich und moralisch überlegen, während im ganzen Reich schon wieder die Fleischrationen gesenkt wurden und britische Luft- und Flotteneinheiten die ‚Bismarck‘ versenkten.
    Auftauchend, als der zweiundsiebzigjährige Schmelz wieder auftauchte aus der Erinnerung, aus der Sehnsucht, ein Enkel könne eine Biografie verfassen, die ihn zum Thema habe, lag er noch immer auf dem Boden des Niemandslands seiner Wohnung. Fetzen abgerissener Haut in den Händen und von Blut umgeben, in dem er sich wälzte, und jetzt erst bemerkte er, wieder zu Sinnen gekommen, wie sehr er die ganze Zeit in Bewegungen gewesen war. Er sah Blut an der gegenüberliegenden Wand, er sah einen Handabdruck aus Blut auf der unteren Hälfte des Spiegels, der nach unten hin ein wenig verwischt war; als habe er sich festklammern, als habe er sich halten wollen, ging es Schmelz durch den Kopf, sich halten wollen an diesem aalglatten Baustoff.
    Blutverschmierte Abdrücke fand er im Umkreis von einigen Metern, konnte das denn der Schmerz allein mit ihm angestellt haben? Dieser unerträgliche Schmerz, der nun sein Bewusstsein durchflutete, der ihn bei jeder Berührung mit der Umwelt aufzufressen, zu kauen und wieder auszuspucken schien? Er musste es schaffen, er musste sich vom schmutzigen Boden dieses Flurs erheben, er musste es irgendwie schaffen, aufs kühle, saubere Laken zu kommen, ins Schlafzimmer,

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