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Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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Zeug, Rucksack und so?“
    „Mann, von wo kommst du denn? – Das nimmst du alles mit, was sonst! Wer weiß, wie lange wir brauchen, um den Russen vom Dnjepr zu verjagen. Vielleicht zwei Tage, vielleicht auch eine ganze Woche.“
    Kurt Schmelz nickte, drehte sich um, lief ein paar Meter, duckte sich, als eine Granate pfeifend über ihn hinweg flog, und ließ sich auf die Knie fallen, um die letzten Meter zur Front kriechend zurückzulegen.
    Als er sich kurz hinter einem Busch umdrehte und verschnaufte, sah er, dass die Granate den notdürftigen Gefechtsstand zerfetzt hatte, hinter dem sich der Rottenführer mit einem Schützen und dem Funker verbunkert hatte. Sturmmann Schmelz ließ sein Gepäck liegen, robbte noch einmal zurück, suchte und fand die drei Marken der Toten. Dem Rottenführer hatte es Kopf und Arme abgerissen, und Sturmmann Schmelz war nun der Einzige, der die letzten Worte dieses Mannes kannte, von dem er noch nicht einmal den Namen wusste. Er stopfte sich die Erkennungsmarken in eine der Uniformtaschen und robbte zur Front, die zum Stillstand gekommen war.
    Später würde ihm Paul Preller im Gerichtsgebäude erklären, dass man den Toten zurücklasse, wenn man seinen Namen ausspreche, und also solle man den Namen des Toten niemals aussprechen. Man solle den Namen im Gedächtnis bewahren und ihn still für sich pflegen, um ihn nicht zu vergessen, denn alles Aussprechen und Aufschreiben diene lediglich dazu, zu vergessen, abzuhaken, zu beenden; wie gut also, dass er die Namen gar nicht erst gekannt habe und sie auch nicht auf den Erkennungsmarken gesucht habe, ging es meinem Großvater später oft durch den Kopf, gesucht auf diesen Erkennungsmarken, die er dem Befehlshaber der Truppe übergeben habe, zu der er abkommandiert worden sei; abkommandiert von einem Toten. Sturmmann Schmelz kroch zum Platz, der ihm zugewiesen worden war, und schnallte den Rucksack ab.
    Die Einheit bestand aus zwanzig Mann und drei Maschinengewehren. Jeweils ein Sturmmann saß hinter einem dieser Gewehre, ein Schütze hockte links neben ihm und sorgte dafür, dass die Patronengurte nicht hakten, wenn geschossen wurde, und dass immer genügend Nachschub bereitstand, und ein weiterer Schütze sorgte für die Befehlsübermittlung, fürs Korrigieren der Zielkoordinaten und fürs Bereithalten angezündeter Zigaretten. Sturmmann Schmelz nahm hinter diesen Männern Stellung und wartete mit den anderen Ersatzleuten darauf, die erste Reihe abzulösen oder sie zu ersetzen.
    Er wartete, um in eines dieser MG Nester zu springen, die sich entlang der Front befanden und beim Feind so gefürchtet waren.
    Die gesamte Division Wiking, die knapp zwanzigtausend Mann stark war, bestand hauptsächlich aus Ausländern, die sich freiwillig gemeldet hatten, um für die deutsche Sache zu kämpfen. Finnen, Schweden, Norweger, Holländer, Franzosen, Italiener, Griechen, Slowaken, Tschechen, Polen, hier waren Männer aus allen Teilen Europas versammelt, und auch Türken, Asiaten und sogar Russen fanden sich, die noch eine Rechnung mit Stalin und seinen Kommunisten offen hatten.
    Nur ein Zehntel bestand aus deutschen Männern, die auch nicht alle zu den Unteroffizieren und Offizieren gehörten. Auch auf der Befehlsebene der Division befanden sich Ausländer aller Nationen. Sie alle hatten einen Schwur auf den Führer abgelegt, und Sturmmann Schmelz kam sich in den ersten Tagen vor, als wäre er wieder in Pommern, in jener Region, die von so vielen verschiedenen Nationen regiert worden sei und in der der europäische Gedanke entwickelt worden sei, wie er noch immer meinte. Sturmmann Schmelz fand sich in einem Schmelztiegel der Nationen wieder. War er zuerst noch darüber verblüfft, erkannte er doch wenig später schon die Chance, die sich ihm bot, Kontakte zu knüpfen und für die Zeit nach dem Krieg vorzusorgen, um ein Netz zu schaffen, das die Völker verbinden solle, um so auf friedlichen Wegen für eine Vereinheitlichung zu sorgen. Denn nur wo Einheit sei, meinte Sturmmann Schmelz, sei auch Friede und Wohlstand möglich.
    Sturmmann Schmelz hatte kein soziales Bedürfnis, wenn er hoffte, keiner seiner Kameraden werde erschossen, er hatte ein gesellschaftliches. Mitleid war Muttersöhnen ja unbekannt, er wusste es, und was war Politik also anderes als Egoismus unter dem Deckmantel des Gemeinwohls. Ja, sicher, er verabscheute die Politik. Sie hatte ihn nicht als Richter arbeiten lassen, und wegen ihrer egoistischen Ziele war er hier gelandet. Wegen ihr

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