Letzte Haut - Roman

– Das ist nun auch gar nicht mehr mein Zuständigkeitsbereich. Dieser Dirlewanger ist schon ganz weit weg. Ermitteln Sie seinen Standort und schicken Sie dem dortigen Gerichtsherren Ihr Material, kapiert? Das ist ein Befehl! Sollen die sich damit auseinandersetzen!“
    „Ich ersuche um Versetzung, Obergruppenführer, zu dem Oberabschnitt, in dem sich Dirlewanger befindet“, sagte Schmelz, und einen Moment lang war Krüger sprachlos. Er starrte Schmelz ausdruckslos und mit großen Augen an, ehe er schrie: „Wegtreten!“
    „Aber wir können so etwas nicht zulassen, ich bin Richter“, sagte Kurt Schmelz.
    „Wegtreten!“, schrie Krüger.
    „Was Recht ist, muss Recht bleiben.“
    „Raus hier!“, schrie Krüger und bekam erneut einen Anfall. Immer wieder schrie er, Schmelz solle verschwinden, abhauen, wegtreten, den Zigeuner machen: „Raus hier!“
    Schmelz nahm Haltung an, knallte die Hacken zusammen, vollführte eine Kehrtwendung und verließ das Arbeitszimmer seines brüllenden Vorgesetzten. Sechs Tage später marschierte die Rote Armee ohne Kriegserklärung in Finnland ein, wo sie auf erbitterten Widerstand traf. Daraufhin beschlossen Großbritannien und Frankreich, den Finnen auf dem Weg über Norwegen und Schweden zu Hilfe zu kommen, doch am gleichen Tag gab sich Finnland der Roten Armee geschlagen, um nicht zum Austragungsort des Konflikts zwischen der Sowjetunion und den Westmächten zu werden. Daher kämpften die Finnen auf der Seite der Deutschen, als die Wehrmacht in die Sowjetunion einfiel.
    Nach außen hin fügte sich mein Großvater, insgeheim aber ermittelte er weiter, wobei der Versuch von Hauptsturmführer Müller, ihn als Beamten der Kripo zu positionieren, erfolglos blieb. Müller hatte am Telefon zerknirscht zugeben müssen, dass er seine Beziehungen überschätzt habe. Arthur Nebe sei alles andere als berechenbar.
    Kurt Schmelz ermittelte daher auf eigene Faust weiter, während die Brigade Dirlewanger ins besetzte Gebiet um Riga einmarschierte und dort in altbekannter Weise fortfuhr. Schmelz sammelte in den nächsten achtzehn Monaten weitere Beweise gegen Dirlewanger, Palästina wurde dreigeteilt, Dänemark und Norwegen wurden von deutschen Truppen besetzt, die ersten Ghettos entstanden in Polen, Churchill wurde zum Premierminister ernannt, die Westoffensive der Wehrmacht begann, Frankreich kapitulierte, die Briten zerstörten in einer algerischen Hafenstadt die französische Flotte, die deutsche Luftwaffe bombardierte England, die Royal Air Force bombardierte Berlin und München, in Berlin unterzeichneten Japan, Italien und Deutschland ein Bündnis, Italien überfiel Griechenland, Griechenland trieb Italien zurück, und Deutschland begann den Balkanfeldzug, während Kurt Schmelz unermüdlich Fakten gegen die Brigade Dirlewanger sammelte und im Mai einundvierzig aufbrach, um dem Gerichtsherren über Ostpreußen seine Beweise persönlich zu bringen. Schon lange traute er den offiziellen Kanälen nicht mehr, und als sich eine Dienstreise nach Ostpreußen wegen einer anderen Sache ergab, glaubte er, die Gelegenheit beim Schopfe packen zu müssen.
    Während Hitlers Stellvertreter Heß an diesem zehnten Mai einundvierzig über Schottland flog, notlanden musste und gefangen genommen wurde, bevor er seinen Plan in die Tat umsetzen konnte, mit dem Herzog von Hamilton zu reden, um mit Großbritannien übereinzukommen, die Welt in eine britische und eine deutsche Interessenzone aufzuteilen, kam Obersturmführer Doktor Kurt Schmelz nach Krakau zurück. Sofort ließ ihn Obergruppenführer Krüger zu sich kommen.
    „Das reicht jetzt, Schmelz!“, brüllte Krüger, kaum dass die Tür geschlossen war: „Glauben Sie, ich bin so ein Trottel, dass ich einmal gegebene Befehle vergesse, auch wenn sie anderthalb Jahre zurückliegen? – Und was machen Sie? Sie hintergehen mich! Hinter meinem Rücken waren Sie weiter anderthalb Jahre lang an der Dirlewangersache dran, und jeden verdammten Tag wagen Sie es, mir ins Gesicht zu grüßen, Sie Arsch! Sie Drecksack! – Jawohl, das war eine Beleidigung, die Sie sich gerne notieren können. Schreiben Sie nur, schreiben Sie nur, keine Bescheidenheit! Jedenfalls keine falsche! – Und wissen Sie, was Sie sich noch notieren können? So geht es nicht weiter! Sie sind ein junger Mensch! Nächsten Monat werden Sie zweiunddreißig! Zweiunddreißig! Und Ihre ständigen Berichte ins Hauptamt, dachten Sie, das geht alles an mir vorbei! Und jetzt noch die Ostpreußensache!