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Letzte Instanz

Letzte Instanz

Titel: Letzte Instanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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und beugte sich vor, die Ellbogen auf
den Knien, die Stirn gegen die Handballen gepreßt.
    »Ich kann nicht«, sagte sie.
    »Warum nicht?«
    »Ich kann mich der schrecklichen
Situation nicht noch einmal aussetzen.«
    »Louise, es sind Jahrzehnte vergangen.
Das Haus steht leer, das Taubenhaus gibt es nicht mehr...«
    »Aber das Geschehene liegt dort noch
überall in der Luft. Das wissen Sie. Sie haben es selbst erlebt in der Nacht
vor zwei Wochen. Ich habe es gesehen: Sie haben gezittert. Und ich... habe es
auch gespürt.«
    »Was speziell haben Sie gespürt?«
    »Haß. Wut. Schmerz. Schrecken. Die krankhafte
Freude, die sich beim Tod eines Menschen einstellt, den man verabscheut.«
    Ich biß mir auf die Unterlippe. Nahm
einen kleinen Schluck Martini. Er schmeckte bitter wie die Reste eines
sechsunddreißig Jahre alten Hasses und scharf wie alte, gutgenährte Wut. Ich
stellte das Glas ab und wartete.
    Louise Wingfield seufzte tief. Hob den
Kopf und richtete sich auf. »In Ordnung«, sagte sie. »Die Stunde der Wahrheit.«
    Ich wartete weiter.
    »Melissa hatte recht«, sagte sie. »Ich
habe Cordy gehaßt. Als sie tot war, war ich glücklich. Und meine Freude
über ihren Tod hat nie nachgelassen.« Sie brach ab, trank einen Schluck und
dachte nach.
    »Im Laufe der Jahre«, fuhr sie fort,
»machte ich immer, wenn ich etwas besonders Gutes erlebte, eine
Bestandsaufnahme meiner Gefühle. Bei der Geburt meines Sohnes zum Beispiel
sagte ich mir: ›Jetzt hast du jemanden, den du absolut lieben kannst und der
diese Liebe erwidert. Ist es jetzt nicht Zeit, diesen Ballast abzuwerfen?‹ Die
Antwort hieß jedesmal nein. Alle paar Jahre machte ich diese Probe, aber der
Haß und die krankhafte Freude blieben mir erhalten.«
    »Auch jetzt noch?«
    »Ja.« Sie stellte ihr Glas ab und sah
mich unerschrocken an. »Ich hasse Cordy in diesem Augenblick so sehr, wie ich
es immer getan habe. Sie hat mir alles genommen, woran ich hing, und hat mein
Leben vernichtet.«
    Louise Wingfield stand auf und trat an
die Fensterwand hinter ihr. Ihre Silhouette zeichnete sich vor der frühen
Abenddämmerung ab. Schließlich sagte sie: »In Ordnung. Ich komme heute abend
nach Seacliff. Ich stelle mich der Situation ein letztes Mal. Entweder befreit
mich der heutige Abend, oder ich bleibe für den Rest meines Lebens die
Gefangene meines Hasses.«
     
     
     

31
     
    Es war eine ganze Weile nach sechs, als
ich in Nell Loomis’ Atelier ankam. In der Natoma Street war es dunkel und ruhig
geworden. Ein Zettel steckte an Nells blauer Tür und flatterte im Wind.
    »Bringe Paket zur Ausstellung im Süden
der Stadt«, stand darauf. »Bin bald zurück. Versuchen Sie nicht, die Tür zu
öffnen — Achtung, Hund!« Ich hatte vorher nichts von einem Hund gesehen. Also
nahm ich an, daß Nell Loomis sich so vor Einbrechern schützte — vorausgesetzt,
sie konnten gut genug lesen, um ihre Nachricht zu entziffern.
    Die nächste halbe Stunde verbrachte ich
gereizt in meinem Wagen. Ich mußte noch mit Jack über heute abend reden, aber
ich wollte jetzt auch nicht wegfahren. Wenn Nell Loomis zurückkommt und mich
nicht antrifft, dachte ich, dann geht sie heim, und ich bekomme die Abzüge
nicht mehr. Diese Abzüge hatten aber in den letzten Stunden in meiner
Vorstellung eine immer größere Bedeutung angenommen.
    Wenn das nicht das beste Argument für
die endgültige Anschaffung eines Autotelefons war. Gleich Montag würde ich eins
kaufen und es All Souls in Rechnung stellen. Sollten sie sich sträuben — was
bislang der Fall war — , würde ich es eben selbst bezahlen. Und würde ihnen
klarmachen, daß, soweit es mich betraf, ihr ganzes Gerede vom bevorstehenden
Sprung ins einundzwanzigste Jahrhundert nichts als aufgeblasenes Geschwätz war.
    Um zehn vor sieben bog ein Wagen in die
schmale Straße ein und hielt hinter mir. Nell Loomis und ich stiegen
gleichzeitig aus unseren Fahrzeugen. Sie schenkte mir ein winziges Lächeln und
bedankte sich für mein Warten. Im Atelier entschuldigte sie sich dann und
verschwand in der Toilette. Ich benutzte ihr Telefon und rief Jack an.
    »Ist alles arrangiert?« fragte ich.
    »Ja — für neun Uhr. Wald hat einen
Anfall bekommen, weil Keyes Development die Zahl der zugelassenen Personen auf
ein Minimum begrenzt sehen will. Das bedeutet, nur die direkt Beteiligten und
die Besitzer von Sonderausweisen dürfen das Grundstück betreten. Keine Presse.
Hast du noch etwas herausgefunden, was ich wissen sollte?«
    »Nichts Endgültiges.

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