Letzte Instanz
so gab ich ihr Geld, damit sie wenigstens sicher
war. Ich liebte sie zu sehr, als daß ich ihr Leben den Händen irgendeines
Metzgers ausgeliefert hätte.« Für einen kurzen Moment wich Eyestone meinem
Blick aus. Dann sah er mich wieder an.
Es überraschte mich, daß die Erinnerung
an Cordys Zurückweisung ihn noch immer schmerzlich berührte. Ich dachte an Judy
Benedicts Abneigung gegen diese Frau, die jetzt noch so heftig war wie vor
sechsunddreißig Jahren. Cordy mußte eine starke Persönlichkeit gewesen sein,
wenn sie sogar noch aus dem Grab die Menschen so heftig irritieren konnte.
Eyestone sah auf die Uhr. »Gibt es
sonst noch etwas, Miss McCone? Ich habe in zwei Minuten einen anderen Termin.«
»Nichts, das wir in zwei Minuten
abhandeln könnten. Ich würde mich gern noch einmal mit Ihnen unterhalten. Ich
interessiere mich für das Institut — dafür, was so eine Denkfabrik heutzutage
eigentlich macht.«
Er zuckte übertrieben zusammen. »Das
ist ein dummer Ausdruck. Benutzen Sie ihn nicht wieder. Die Boulevardpresse hat
ihn seinerzeit erfunden. Wir haben ihn damals nicht gemocht und mögen ihn auch
heute noch nicht. Aber warum interessieren Sie sich für uns? Die Aktivitäten
des Instituts haben ganz gewiß nichts mit Cordys Tod zu tun.«
»Wahrscheinlich nicht, aber ich möchte
gern das Umfeld rekonstruieren, in dem das Verbrechen stattgefunden hat.«
Er blinzelte und sah mich im Licht, das
durch das Fenster fiel, forschend an. Nach einer Weile sagte er: »Es gibt wohl
niemanden, der nicht gern über seine Arbeit redet. Ich würde mich also freuen,
Sie wiederzusehen. Rufen Sie Alex an und machen mit ihm einen Termin aus — am
besten in der nächsten Woche.«
»Gern.«
Wir standen beide gleichzeitig auf, und
Eyestone begleitete mich durch das Vorzimmer hinaus. Es lag verlassen da, und
auch in der Lobby schien niemand auf ein Gespräch mit ihm zu warten. Draußen
auf der Galerie ergriff Eyestone meine Hand, die Lippen schief verzogen. »Ich
habe mich gern mit Ihnen unterhalten, Miss McCone«, sagte er. »Sie entsprechen
durchaus Ihrem Ruf.«
Was sollte das nun wieder bedeuten?
Doch bevor ich ihn fragen konnte, war Eyestone schon auf dem Weg zurück in sein
Büro.
Bei All Souls angekommen, schob ich die
Gedanken an den Fall beiseite und wühlte mich durch den vernachlässigten
Papierkram. Es war sieben vorbei, bis ich fertig war. Ich hatte vorgehabt,
heimzufahren und das Gerichtsprotokoll des Falles Benedict noch einmal
durchzugehen, aber mein kleines Wortgefecht mit Leonard Eyestone hatte mich
angeregt. Ich wollte mit den Ermittlungen fortfahren, doch ich schien ein wenig
den Faden verloren zu haben. Vielleicht brauchte ich Inspiration.
Ich griff zum Telefon und wählte das
Projekt Helfende Hände. Louise Wingfield war noch da, genauso ein Workaholic
wie ich. Ich hörte ihre Begeisterung, als ich ihr vorschlug, mich auf einer
Reise in die Vergangenheit zu begleiten.
9
Ich kannte einen Kollegen, einen in San
Francisco geborenen italo-amerikanischen Privatdetektiv, Ende fünfzig, der oft
den Untergang des alten North-Beach-Viertels beklagte. Wenn ich auch noch nicht
so lange hier lebte, um mich an jene Zeit erinnern zu können, begriff ich sehr
wohl, was mein Freund, ein Nostalgiker, wie er selbst zugab, damit meinte.
Chinatown war in das damalige Little Italy hinübergeschwappt. Oben-ohne-Clubs,
Bars und T-Shirt-Läden bildeten jetzt eine neonleuchtende Meile den Broadway
und die Columbus Avenue entlang. Schicki-Micki-Restaurants waren in viele der
seit Generationen von Italienern betriebenen Gaststätten eingezogen, und die
hohen Mieten vertrieben die Familien. Doch es gab noch Nischen, in denen die
einstige Kultur weiter blühte, wo der Duft von krustig gebackenem
Sauerteigbrot, von Oregano und Espresso in der Luft lag und man noch die
Sprache der alten Heimat sprach. Für mich ist North Beach ein aufregender Ort, an
dem verschiedene Kulturen aufeinandertreffen und sich mischen, wo man
bohemienhaft lebt und ein gutes Nudelgericht zusammen mit einem starken roten
Wein für weniger als zwanzig Dollar bekommt. Falls man einen Parkplatz findet.
Ich hatte heute abend Glück. Am
Washington Square ergatterte ich einen Platz im Schatten der zweitürmigen
Peter-und-Paul-Kirche. Abergläubisch kreuzte ich die Finger, um auch künftiges
Glück zu beschwören, und eilte hügelan zur Ecke Greenwich Street und obere
Grant Avenue, wo ich mit Louise Wingfield verabredet war. Die
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