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Letzte Instanz

Letzte Instanz

Titel: Letzte Instanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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Nachmittagswärme
war verflogen, und Nebel zog auf — dünne Schwaden drangen in die engen Gassen,
wanden sich um Neonleuchten und Straßenlampen und verliehen ihnen einen weichen
und altmodischen Schimmer.
    Louise Wingfield hatte sich in
Daunenjacke, Schal und Wollmütze gepackt und lehnte an einem Straßenpfosten an
der Ecke. Sie rauchte und sah zum Himmel. Als sie mich kommen hörte, sah sie
sich um und streckte sich, die Zigarette warf sie auf den Gehsteig, trat sie
aus und schob den Stummel mit dem Fuß in den Gulli. Nachdenklich und mit einem
wehmütigen Lächeln sah sie mich an.
    »Es gibt sie noch«, sagte sie.
    »Die Wohnung?«
    »Wahrscheinlich, aber ich meine
eigentlich die Bäckerei.« Sie zeigte auf den nächsten Block, wo im Nebel
verschwommen ein Schild ›Fabrizio Pastries‹ verkündete.
    »Der alte Name?« fragte ich.
    »Sogar das alte Schild.«
    »Gehen wir doch hinein und fragen, ob
der Hausbesitzer auch noch der alte ist.« Wir gingen die Steigung hinauf, und
ich fügte hinzu: »Sie sind nicht mehr hier gewesen, seit Sie damals die Wohnung
aufgegeben haben?«
    »Nein. Nach meiner Heirat sind wir nie
mehr nach North Beach gekommen. Es war, wie mein damaliger Mann gesagt haben
würde, nicht der passende Ort für Leute wie uns. Und nach meiner Scheidung
hatte ich auch keinen Grund, wieder hierherzukommen. Wahrscheinlich wäre ich
auch gar nicht gern an die alten Zeiten erinnert worden. An Cordy...«
    In den Schaufenstern der Bäckerei lagen
runde Brotlaibe, Kuchenbleche, handgezogene Grissini und eine verzierte
Sahnetorte. Drinnen stand hinter einer Theke ein gutaussehender Mann mit
lockigem Haar um die vierzig. Als wir eintraten, begrüßte er uns mit einem
breiten Lächeln. Ich folgte Louise Wingfield und begutachtete die
Kuchentabletts mit ihren vielen reizvoll geformten und appetitlich belegten
Backwaren. Als ich ein paar Teilchen mit einer Füllung aus kandierten Früchten
und Schokolade entdeckte, meldete sich knurrend mein Magen. Soviel zu dem
nahrhaften und ballaststoffreichen Lunch.
    Der Mann bemerkte meinen sehnsüchtigen
Blick, lächelte wieder und kam auf mich zu. »Bitte, probieren Sie.« Er legte
eins von den kleinen Hörnchen auf ein Stück Pergament und reichte es mir über
die Theke. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, als ich hineinbiß. Ricotta,
Zitrone und diese wunderbar bittere Schokolade — einfach himmlisch.
    »Wie, um alles in der Welt, machen Sie
die?« fragte ich.
    »Ein altes Familiengeheimnis.«
    »Ist das hier noch ein
Familienunternehmen?«
    »Seit über fünfzig Jahren. Mein alter
Herr hat damit begonnen, als ich noch gar nicht auf der Welt war.«
    »Und seit wann führen Sie das
Geschäft?«
    »Erst seit fünf Jahren, nachdem mein
alter Herr sich zurückgezogen hat. Ich habe eine lange Lehrzeit hinter mir,
aber sie hat sich gelohnt.«
    »Sie werden sich wohl nicht mehr an
meine Freundin erinnern.« Ich zeigte auf Louise Wingfield. »Sie hatte Mitte der
fünfziger Jahre die Wohnung über Ihnen gemietet.«
    Er sah Louise an und schüttelte
bedauernd den Kopf. »Ich erinnere mich schon, daß mein Vater die Wohnung
vermietet hatte. Er hatte damals beschlossen, meine Schwester und ich sollten
außerhalb der Stadt aufwachsen. Wir sind nach Dale City gezogen, in eine
Neubausiedlung. Das war in den Fünfzigern gerade en vogue: alles modern, nett
und hygienisch, nett und langweilig. Meine Schwester und ich sind später wieder
hierher zurückgekommen, und jetzt wohne ich mit meiner Familie in der Wohnung.
Und was immer aus meinen Kindern wird, ich garantiere ihnen, daß sie sich dabei
nicht langweilen werden.«
    »Lebt Ihr Vater noch in Dale City?«
fragte ich.
    »Sie scherzen! Nach dem Tod meiner
Mutter sehnte er sich genauso wie ich und meine Schwester wieder hierher
zurück. Er hat ein Apartment ein paar Blocks weiter, und abends um diese Zeit
finden Sie ihn meistens zusammen mit seinen Freunden bei Reno’s.«
    »Ist das eine Bar?«
    Louise antwortete für ihn. »Eine Bar in
bester North-Beach-Tradition.«
    Der Bäcker nickte. »Waren Sie mal
drin?«
    »Mehr als einmal, damals.«
    »Und mein alter Herr, Frank Fabrizio,
war Ihr Vermieter? Was es nicht alles gibt. Hören Sie, gehen Sie doch einfach
rüber zu Reno und sagen ihm guten Tag. Das würde den alten Mann ganz sicher
freuen.«
    »Machen wir das doch«, sagte ich und
warf einen Blick auf das Tablett mit den Hörnchen. »Aber vorher hätte ich gern
noch sechs Stück.«
     
    Zu Reno’s mußten wir uns durch

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