Letzte Instanz
die
neblige Gasse kämpfen. Louise blieb draußen für einen Moment stehen und zeigte
mir den Aufgang zur Wohnung. Ein schwarzes Eisengitter versperrte den winzigen
Eingang. Durch die schneeweißen Gardinen hinter den Fenstern drang gedämpftes
Licht nach draußen.
»Es ist genau wie früher«, sagte sie.
»Als wäre ich erst gestern ausgezogen. Fast sehe ich noch Cordy in ihrer
Lieblingshemdbluse aus eisblauem Taft die Stufen herunterkommen.« Dann schlug
sie die Arme um die Schultern und schauderte. »Wie konnte ich selbst so alt
werden, während all dies so geblieben ist, wie es war?«
»So alt sind Sie doch noch nicht.«
»Bisher habe ich das auch gedacht. Doch
mein Körper fühlt sich so... vergänglich an, während das hier« — sie stieß mit
der Fußspitze kräftig gegen die kleine Betonveranda — »alles wie immer ist.«
In ihrer Stimme klang echter Zorn mit,
und das wunderte mich. Louise Wingfield war noch keine sechzig und sehr robust,
aber wahrscheinlich hat jeder ein anderes Bild vom Alter. Ich selbst wappnete
mich schon für den Tag, an dem mein Körper anfangen würde, mir nicht mehr zu
folgen und ich Stück für Stück genötigt wäre, auf das zu verzichten, was ich
gern tat, und auf die Träume, die sich bis dahin nicht erfüllt hatten. Und ich
wußte, daß es keine tröstenden Worte für Louise gab, nichts, was ihren Zorn auf
den stetigen Ansturm der Zeit würde besänftigen können.
»Gehen wir zu Reno’s«, sagte ich leise.
»Wir könnten jetzt beide einen Drink gebrauchen.«
Die Bar war typisch altes North Beach:
schummriges Licht, dunkle Holztäfelung, Fliesenboden im Schachbrettmuster,
dunkelrote Vorhänge. In die Ziegelwand waren Nischen mit pseudoklassischen
Statuen eingelassen, und über der Bar hing als scheußliches Ölgemälde eine
toskanische Landschaft mit Goldrahmen. Zwei alte Männer saßen an einem Tisch
über ein eingelegtes Schachbrett gebeugt. Etwas weiter hockte ein anderer,
vielleicht ein Dichter, und kritzelte wirr auf einem zerfledderten Block herum.
In einer Nische hielt sich ein Paar mittleren Alters eng umschlungen. In ihren
Gesichtern stand stumme Verzweiflung.
Sonst gab es nur noch einen Gast: einen
Mann mit zerfurchtem Gesicht und schütter werdendem Haar, der der Bäcker sein
konnte — um ein Vierteljahrhundert gealtert. Er saß auf einem Hocker am anderen
Ende der Bar, vor sich ein Glas Rotwein. Er unterhielt sich mit dem ergrauten
Barkeeper. Ich tippte Louise an und zeigte auf ihn. Sie nickte und ging auf ihn
zu.
Als wir näherkamen, unterbrachen die
beiden Männer ihr Gespräch — eine lebhafte Diskussion über das Versagen unseres
Bürgermeisters — und sahen uns interessiert an. Frank Fabrizio zwinkerte uns
zweideutig zu — offenbar ein Mann, der die Frauen liebte, junge wie alte.
Louise schenkte ihm ein kleines Lächeln als Dank für sein Kompliment, dann
kletterte sie auf den Hocker neben ihm. Ich setzte mich an ihre andere Seite,
während der Barkeeper zwei Cocktail-Servietten vor uns auf die blankpolierte
Theke legte. Wir bestellten zwei Gläser von seinem roten Hauswein. Dann zündete
sich Louise eine Zigarette an, sah Frank Fabrizio an und stellte sich vor. »Ich
war eines von den Mädchen, die Mitte der fünfziger Jahre Ihre Wohnung im ersten
Stock gemietet hatten«, sagte sie. »Ihr Sohn sagte uns, daß wir Sie hier finden
würden. Also sind wir vorbeigekommen, um Ihnen guten Tag zu sagen.«
Er musterte sie, und die Falten um
seine Augen vertieften sich. »Irgendwie kommen Sie mir bekannt vor. Natürlich
sind wir alle inzwischen älter geworden, stimmt’s, Reno?«
Der Barkeeper zuckte weise mit den
Schultern.
Fabrizio schüttelte amüsiert den Kopf.
»Komisch, was nach all den Jahren aus den Leuten wird. Ihr Mädchen wart damals
die reinen Teufelsweiber.«
»Nun, ja...«
»Meine Frau, Gott hab’ sie selig, hat
sich ständig über euch beschwert. Sie sagte, wir hätten aus der Wohnung auch
gleich ein Bordell machen können. Wußten Sie, daß besonders tugendhafte Frauen
eine besonders schmutzige Phantasie haben? Wie dem auch sei, ich habe euch
Mädchen die Stange gehalten und ihr gesagt, daß ihr euch nur ein bißchen die
Hörner abstoßt. Ich glaube, jeder, ob männlich oder weiblich, hat ein Recht
darauf, wenn er den nötigen Mumm hat.«
Der alte Mann schien sich gern reden zu
hören und würde wohl endlos so weiter schwadronieren, wenn man ihn ließe. Also
beugte ich mich an Louise Wingfield vorbei zu ihm hinüber, nannte meinen
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