Letzte Instanz
daß
alles vertuscht wird, wie seit sechsunddreißig Jahren?«
Die Frage ärgerte mich. Er hätte
inzwischen wissen müssen, daß ich kein Mensch bin, der aufgibt. Diese Reise — meine
Flucht aus der City und vor dem Fall — war nur ein Aufschub. Zudem hatte ich
Bart Wallace unter anderem auch nicht wieder angerufen, weil ich Zeit gewinnen
wollte. Ich hoffte, ein kleines Stückchen Information könnte quasi von selbst
aus der Masse nutzloser Daten herausfallen, die jeder so in einem hinteren
Winkel seines Bewußtseins mit sich herumschleppt. Irgend etwas hatte nicht
gestimmt am Tatort des Mordes an Lis. Irgend etwas... aber ich kam nicht
darauf.
Der Ärger ließ meine Stimme schärfer
klingen. »Du ziehst vorschnelle Schlüsse, Hy. Vielleicht ist Stameroff nur ein
besorgter und überfürsorglicher Vater.«
Er reagierte nicht auf den Ton, den ich
angeschlagen hatte, sondern sagte bloß: »Das glaubst du selber nicht, und du
weißt es. Todsicher vertuscht er etwas, und ich sage dir eines, McCone,
Vertuschen ist eine üble Sache.«
Ich sah ihn neugierig an und hoffte, er
würde fortfahren. Schließlich weiß jeder, daß Vertuschen eine üble Sache ist.
Aber Hy hatte das mit einer Heftigkeit betont, die ganz offensichtlich auf eine
bittere persönliche Erfahrung schließen ließ. Doch er sah meinen
Gesichtsausdruck und zog sich wieder vorsichtig zurück.
»Na gut«, sagte ich nach einer Weile,
»Vertuschung oder nicht, es ist nicht mehr mein Fall.«
Er machte sein Bier auf und sah mich
nachdenklich an.
»Was ist mit dir los, McCone? Du hast
keine Angst — nicht vor dem guten Richter Stameroff und nicht vor diesem
Abschaum, der die Wände beschmiert. Es steht dir bis oben, aber du fürchtest
nicht, die Kontrolle zu verlieren. Vor dem Problem hast du schon zweimal
gestanden, und du weißt, daß du die Grenze nicht überschreiten wirst. Was also
geht dir so gegen den Strich? Den alten Fall könntest du doch weiter für das
Historische Tribunal recherchieren. Daran kann dich niemand hindern.«
Ich rückte von ihm ab, drehte mich zur
Seite und sah in die Flammen. Kobalt, smaragd, amethyst, blutrot — genau wie in
meinem Traum von den Ereignissen am 22. Juni 1956...
»McCone?«
»Ich habe gehört, was du gesagt hast.«
»Und?«
»Ich werde darüber nachdenken.«
Er nickte zufrieden. Nach einer Weile
sagte er: »Diese Pennies auf den Augen der toten Frau — der Symbolgehalt ist ziemlich
klar.« Ich hatte ihm in den letzten fünf Tagen den Fall von damals bis heute in
allen Einzelheiten geschildert.
»Jemandem die Augen vor etwas
Verschließen«, sagte ich. »Er sagt etwas über das Opfer aus: Sie sollte die
Augen vor dem verschließen, was immer zu ihrem Tod geführt hat. Oder es sollte
eine Warnung für andere sein.«
»Aber warum Pennies aus Blei ?
Die waren gar nicht so leicht zu bekommen, auch damals nicht. Blei ist ein sehr
reaktives Metall und hochtoxisch. Und es besitzt auch eine Symbolik: schwer,
grau, träge.«
»Diese Kriegspennies waren nicht
wirklich aus Blei. Es war verzinkter Stahl. Sie wurden nur ein Jahr lang
geprägt, neunzehnhundertdreiundvierzig.«
Anders als Jack fand Hy es nicht
verwunderlich, daß ich so genau Bescheid wußte. »Ich frage mich, wie viele
Leute das überhaupt wissen? Zink — keine besondere Symbolik, außer der
Assoziation mit der Farbe Weiß. Stahl — eine von Menschen hergestellte
Legierung — symbolisiert Festigkeit. Die ›eiserne Hochzeit‹ feiert man bei uns
nach elf Jahren.« Er lachte sich erinnernd. »Das weiß ich, weil meine Eltern
sich im elften Ehejahr scheiden ließen und meine Mutter beklagte, daß es in
ihrer Beziehung kein Eisen, keine Festigkeit gegeben habe. Dafür hatte ihre
zweite Ehe viel davon. Sie dauerte bis zum Tode.«
Wieder sah ich ihn neugierig an. Er
hatte eine Art, mir größere und kleinere Stücke aus seinem Leben mitzuteilen —
Fragmente, die sich nicht richtig zusammenfügten — , die mich immer neugieriger
machten.
»Das chemische Zeichen für Blei ist Pb«,
fuhr er fort, »die Ordnungszahl 82. Zink ist Zn, 30. Das hat nichts zu
bedeuten, glaube ich.«
Jetzt starrte ich ihn nur noch an.
»Seit wann kennst du dich so gut in Chemie aus?«
»Ach, vor langer Zeit habe ich mich mal
darin etwas umgeschaut. Man bekommt zumindest flüchtig mit der Mineralogie zu
tun, wenn man in diesem Teil des Landes lebt, wo soviel geschürft wurde.«
Ich schüttelte den Kopf. Die Breite von
Hys Interessengebieten verwunderte mich immer wieder.
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