Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
Street lag ein wenig außerhalb der Innenstadt, und Danny musste nie an der Iowa Avenue vorbei, wo er früher mit Katie gewohnt hatte - jedenfalls nicht auf dem Weg zu oder von dem Englisch-Philosophie-Bau am Iowa River (dem sogenannten epb, wo der Autorenworkshop untergebracht war und Danny sein Büro hatte).
    So geräumig die Mietshäuser an der Court Street auch waren, Danny schrieb nicht zu Hause - hauptsächlich wegen Yi-Yiings unregelmäßiger Arbeitszeiten in der Notaufnahme des Mercy Hospital. Häufig schlief sie bis mittags im Zimmer des Kochs, dann kam sie in ihrem Seidenpyjama runter in die Küche und machte sich etwas zu essen. Wenn sie nicht im Krankenhaus arbeitete, sah man Yi-Yiing nur in ihren aufreizenden Pyjamas aus Hongkong.
    Danny brachte Joe gern zu Fuß in die Schule und ging anschließend zum Schreiben in den Englisch-Philosophie-Bau. Wenn seine Bürotür zu war, wussten seine Studenten und Dozentenkollegen, dass er nicht gestört werden wollte. (Yi-Yiing war klein von Statur, aber erstaunlich stämmig, sie hatte ein hübsches Gesicht und langes, rabenschwarzes Haar. Sie besaß Unmengen von Seidenpyjamas in einer Vielzahl leuchtender Farben; Danny erinnerte sich, dass selbst ihre schwarzen Pyjamas zu leuchten schienen.) Dieser zusammenhanglos eingeschobene Gedanke - das verführerische Bild von Yi-Yiing in ihrem leuchtenden Pyjama, wie sie schlafend auf dem Bett seines Vaters lag - verfolgte ihn bis weit in den Vormittag und lenkte ihn hartnäckig vom Schreiben ab. Yi-Yiing und ihre Pyjamas, oder deren betörende Allgegenwart, begleiteten Danny bis in den Englisch-Philosophie-Bau.
    »Mir ist unbegreiflich, wie du in einem so sterilen Gebäude schreiben kannst«, sagte der Schriftsteller Raymond Carver über das epb. Ray war damals Danny Angels Kollege im Autorenworkshop.
    »Es ist nicht so ... steril, wie du vielleicht glaubst«, sagte Danny zu Ray.
    Ein anderer Schriftstellerkollege, John Cheever, verglich das epb mit einem Hotel »für Kongresse und Tagungen«, doch Danny mochte sein Büro im dritten Stock. Morgens standen die Büros und Seminarräume des Autorenworkshops meist leer. Außer der Institutssekretärin war nie jemand da, und sie war gut darin, Nachrichten entgegenzunehmen und Anrufer - außer den kleinen Joe oder Dannys Dad - abzuwimmeln.
    Von ästhetischen Gesichtspunkten einmal abgesehen gefallen Schriftstellern meistens die Orte, wo sie gut arbeiten können. Tagsüber, solange Joe sicher in der Schule war, liebte Danny das epb inzwischen geradezu. Im dritten Stock war es still, eine regelrechte Oase der Ruhe - vorausgesetzt, Danny ging im Laufe des Nachmittags wieder.
    Schriftsteller schreiben gewöhnlich nicht nur über
Positives,
oder?, dachte Danny Angel, während er im Avellino in sein Notizbuch kritzelte und ihm Iowa City nicht aus dem Kopf ging. »Das Baby auf der Straße«, hatte er geschrieben - eventuell eine Kapitelüberschrift, aber dahinter steckte mehr. Er hatte »Das« durchgestrichen und stattdessen »Ein Baby auf der Straße« geschrieben, doch ihm gefiel keiner der Artikel, und rasch strich er das »Ein« ebenfalls durch. Etwas weiter oben auf derselben Seite des Notizbuchs fand sich ein weiterer Beleg für die Abneigung des Schriftstellers gegen Artikel - »Der blaue Mustang« hatte er zu »Blauer Mustang« korrigiert. (Vielleicht sollte er es bei »Baby auf der Straße« bewenden lassen?)
    Wer die Miene des einundvierzigjährigen Schriftstellers sah, der merkte, dass es hier um etwas Wichtigeres und auch Schmerzhafteres ging als um die Suche nach einer Überschrift. Dot und May kam der bekümmert wirkende junge Schriftsteller merkwürdig attraktiv und vertraut vor; sie beobachteten ihn aufmerksam, während sie auf ihr Essen warteten. In Ermangelung von Schildern, die sie hätte vorlesen können, war May vorübergehend verstummt, doch Dot flüsterte ihrer Freundin zu: »Egal, was er da schreibt, Spaß macht es ihm nicht.«
    »Ich wüsste schon, wie ich dafür sorgen könnte, dass er Spaß hat!«, flüsterte May zurück, und beide Frauen verfielen wieder in ihr typisches Gegacker.
    Zu diesem Zeitpunkt brauchte es einiges, um Danny vom Schreiben abzulenken. Der blaue Mustang und das Baby auf der Straße schlugen den Schriftsteller fast vollständig in ihren Bann; dass das eine oder das andere eine gute Überschrift abgeben könnte, war dabei Nebensache. Der blaue Mustang und das Baby auf der Straße setzten Dannys Phantasie in Gang, und sie bedeuteten ihm viel

Weitere Kostenlose Bücher