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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Studentin am Windham College - dennoch war es seltsam, dachte Danny. Hatte der Koch, der bald fünfzig wurde, mehr von einem Bohemien an sich als sein Sohn, der Schriftsteller (wenigstens bis Youn in das zweite Haus an der Court Street zog)?
    Und was stimmte eigentlich mit diesem Haus nicht? Es war groß genug für sie alle, daran lag es nicht. Es gab genug Räume, so dass jeder sein eigenes Schlafzimmer hätte haben können;
    Youn benutzte eines der Zimmer zum Schreiben und für ihre Siebensachen. Für eine Frau von über dreißig, die keine eigenen Kinder und eine undurchschaubare koreanische Scheidung hinter sich hatte - wenigstens war sie in ihrem unvollendeten Roman »undurchschaubar«, wie Danny fand -, besaß Youn erstaunlich wenig Sachen. Hatte sie alles in Seoul zurückgelassen, nicht nur ihren offenbar furchterregenden Exmann?
    »Ich bin
Studentin«,
hatte sie zu Danny gesagt. »Das ist ja das Befreiende, wenn man wieder studiert - ich habe überhaupt keine Sachen.« Eine kluge Antwort, dachte Danny, doch er wusste nicht, ob er ihr glauben sollte.
     
    Im Frühjahr 1973, als Joe in die dritte Klasse kam, bewahrte der Koch auf der Veranda hinter ihrem Haus in Iowa City eine Kiste Äpfel auf. Von der Veranda aus sah man auf eine schmale, gepflasterte Gasse, die hinter der langen Reihe von Häusern verlief, deren Fassaden in Richtung Court Street zeigten. Die Gasse wurde offenbar ausschließlich von der Müllabfuhr benutzt. Nur gelegentlich fuhr langsam ein Auto vorbei und - häufiger, sogar andauernd - Kinder auf Fahrrädern. Auf dem selten befahrenen Pflaster lag etwas Sand oder Kies, so dass die Kids auf ihren Fahrrädern rutschen üben konnten. Joe war in dieser Gasse einmal von seinem Rad gefallen. Yi-Yiing hatte die Schürfwunde am Knie des Jungen gereinigt.
    Die Veranda mit Blick auf die Gasse ging von der Küche ab, und irgendetwas fraß die Äpfel, die der Koch dort draußen aufbewahrte - ein Waschbär, vermutete Danny zuerst, doch tatsächlich war es ein Opossum, und als Joe eines Abends auf die Veranda ging, um sich einen Apfel zu holen, und mit einer Hand in die Kiste griff, jagte ihm das Opossum einen Schreck ein. Es knurrte, zischte oder fauchte, was den Jungen so verängstigte, dass er nicht einmal genau wusste, ob ihn das primitiv aussehende Tier gebissen hatte.
    Danny fragte immer nur: »Hat es dich
gebissen?«
(Er untersuchte Joes Arme und Hände zwanghaff nach Bissspuren.)
    »Ich
weiß
es nicht!«, heulte der Junge. »Es war weiß und rosa und sah
schrecklich
aus! Was
war
das?«
    »Ein Opossum«, wiederholte Danny immer wieder; er hatte es davonschleichen sehen. Opossums waren hässliche Tiere.
    Als Joe an diesem Abend einschlief, ging Danny in das Zimmer des Jungen und sah ihn sich noch einmal genau an. Er wünschte, Yi-Yiing wäre zu Hause, doch sie hatte Dienst. Sie als gute Krankenschwester hätte sagen können, ob Opossums manchmal Tollwut hatten - so wie häufig die Waschbären in Vermont -, und sie hätte auch gewusst, was zu tun wäre, falls das Tier Joe gebissen hatte, doch Danny fand an dem perfekten Körper seines Sohnes nirgends einen Bissabdruck.
    Youn hatte in der offenen Tür des Kinderzimmers gestanden und beobachtet, wie Danny nach Spuren eines Tierbisses suchte. »Würde Joe es nicht
wissen,
wenn er gebissen worden wäre?«, fragte sie.
    »Dazu war er zu erschrocken und zu verängstigt«, antwortete Danny. Youn musterte den schlafenden Jungen, als betrachte sie ein wildes oder unbekanntes Tier, und Danny fiel auf, dass sie Joe oft konsterniert und fasziniert ansah, als käme sie aus einer anderen Welt. Während Yi-Yiing einen Narren an Joe gefressen hatte, weil sie sich nach ihrer gleichaltrigen Tochter sehnte, betrachtete Youn Joe mit einer Art Verständnislosigkeit, als wäre sie noch nie in der Nähe von Kindern egal welchen Alters gewesen.
    Wenn man wiederum ihrer Geschichte
(oder
ihrem Roman) glauben konnte, so hatte sie ihren Mann dazu gebracht, in eine Scheidung einzuwilligen - und, was am wichtigsten war, diesen offenbar komplizierten Vorgang in die Wege zu leiten -, weil sie einfach nicht schwanger wurde und kein Kind bekam. Denn das war die verwickelte Handlung ihres Romans: Ihr Ehemann nahm an, dass sie
versuchte,
schwanger zu werden, obwohl sie die ganze Zeit die Antibabypille nahm
und
ein Diaphragma verwendete, also alles unternahm, um nicht schwanger zu werden und kein Kind zu bekommen.
    Youn schrieb ihren Roman auf Englisch, nicht auf Koreanisch, und ihr

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