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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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schon, was«, antwortete sie ihm. Er senkte als Erster den Blick.
    »Was macht der Plan, deine Tochter und deine Eltern herzuholen? Immer noch so verzwickt?«, fragte er sie. Da wandte sie sich ab.
    »Ich bin gerade dabei, mir das ganz langsam anders zu überlegen«, antwortete Yi-Yiing.
    Viel später erfuhr der Koch, dass sie nach Hongkong zurückgekehrt war und dort als Krankenschwester arbeitete. (Keiner von ihnen fand je heraus, was aus Kaori und Sao geworden war, den Yokohamas.)
    An diesem Abend, als der Krieg endete, nahm Yi-Yiing ihren Tee mit nach oben und ließ Danny in der Küche allein. Die Verlockung war groß, den Fernseher einzuschalten, doch stattdessen schlenderte Danny hinaus auf den Gehsteig der Court Street. Es war nicht sehr spät - noch weit vor Mitternacht -, doch die meisten Häuser in der Straße waren dunkel, oder es brannte nur noch Licht im ersten Stock. Danny stellte sich vor, dass die Leute im Bett lasen oder fernsahen. In etlichen Häusern in der Nähe erkannte Danny das fahle Licht eines Fernsehgeräts - ein unnatürlicher blaugrün-blaugrauer Schimmer. Irgendwas stimmte mit dieser Farbe nicht.
    Ende April war es in Iowa warm genug, dass einige Fenster offen standen, und auch wenn Danny nicht genau verstand, was im Fernsehen gesprochen wurde, so identifizierte er doch das monotone Gerede als die körperlose Stimme der Nachrichten - oder bildete es sich jedenfalls ein. (Woran hätte Danny gemerkt, dass sich jemand eine Liebesgeschichte oder sonst einen Film angesehen hätte?)
    Falls die Sterne leuchteten, so sah Danny sie nicht. Drei Jahre hatte er in der Court Street gewohnt; hier zu wohnen hatte nichts Bedrohliches gehabt, von dem fahrerlosen blauen Mustang abgesehen, und jetzt zogen der Schriftsteller und seine Familie zurück nach Vermont. »Dieses Scheißland ...«, hatte Ketchum gesagt, war aber zu wütend oder betrunken oder beides gewesen, um das weiter auszuführen. War es nicht ohnehin ein zu hartes Urteil? Danny hoffte es.
    »Pass bitte auf meinen Dad und meinen kleinen Sohn auf«, sagte der Schriffsteller laut, aber mit was oder wem redete er da eigentlich? Mit der Sternenlosen Nacht über Iowa City? Mit der einzigen wachen und ruhelosen Seele an der Court Street, die ihn hören mochte - vielleicht Yi-Yiing, falls sie noch wach war?
    Danny trat vom Gehsteig auf die leere Fahrbahn, als wolle er den blauen Mustang provozieren, von ihm Notiz zu nehmen. »Tu bitte meinem Vater oder meinem Sohn nichts an«, sagte Danny. »Tu
mir
etwas an, wenn du jemandem etwas antun musst.«
    Doch wen gab es da draußen unter dem Sternenlosen Himmel, der auf sie aufpassen oder ihnen etwas zuleide tun würde? »Lady Sky?«, sagte der Schriftsteller fragend, doch Amy hatte nie behauptet, ein Vollzeitengel zu sein, und er hatte sie seit acht Jahren nicht gesehen. Niemand antwortete.
     

11 - Honog
    Wo ist mein Gedächtnis geblieben?, dachte der Koch; er war fast sechzig und hinkte stärker als früher. Tony Angel kramte in seiner Erinnerung, zu welchen Märkten in Chinatown ihn Kleiner Bruder mitgenommen hatte. Kam Kuo lag an der Mott Street, Kam Man an der Bowery - oder war es umgekehrt? Ganz egal, befand der Koch; an die wichtigeren Dinge konnte er sich immer noch erinnern.
    Wie hatte Xiao Dee bei ihrem Abschied geweint, wie hatte Ah Gou die wiederangenähte Spitze seines linken Zeigefingers verdreht, um sich zum Weinen zu bringen.
»She bu de!«,
hatte Xiao Dee gerufen.
    »She bu de!«,
hatte Ah Gou geheult und die vernarbte und leicht schiefe Fingerbeere verdreht.
    Chinesische Einwanderer sagten zueinander
she bu de,
wie Xiao Dee dem Koch auf einer ihrer sechzehnstündigen Marathontouren nach oder aus Manhattan erklärt hatte, irgendwo auf der I-80. Man sagte
she bu de,
wenn man seine chinesische Heimat verließ und nach New York oder San Francisco aufbrach - oder an einen anderen fernen Ort, wo man seine Freunde aus Kindertagen und Familienangehörigen vielleicht nie wiedersehen würde. (Xiao Dee hatte Tony Angel erzählt,
she bu de
bedeute so etwas wie »Ich ertrage es nicht, loszulassen«. Man sagt es, wenn man sich von etwas nicht trennen will, was man hat.)
    »She bu de«,
flüsterte der Koch in seiner geliebten Küche im Avellino vor sich hin.
    »Wie meinen, Boss?«, fragte ihn Greg, sein Sous-Chef.
    »Ich hab mit meinen Calamari gesprochen«, sagte Tony. »Bei Tintenfischen ist es so, Greg, entweder kocht man sie nur ein wenig, oder man kocht sie ewig und drei Tage - irgendwas

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