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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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dem Tod von Dominics Mutter. Da sie es aber auch nicht ertrugen, voneinander getrennt zu leben, befanden sich Doch-nicht-Cousin und Doch-nicht-Cousine in einem Dilemma. Nicht einmal Nunzi konnte ihnen sagen, was sie tun sollten, nicht mehr. Die junge Frau und der deutlich jüngere Mann taten nur, was die arme Annunziata ihrer Ansicht nach gewollt hätte, und vielleicht stimmte das sogar.
    Der junge Dom log einfach, was sein Alter betraf. Er und seine (Eigentlich-doch-nicht-)Cousine heirateten in der Schlammperiode 1941 - kurz vor den ersten großen Triften dieses Jahres auf dem Androscoggin, nördlich von Berlin. Sie waren ein erfolgreicher, wenn auch nicht gerade wohlhabender, junger Koch und eine erfolgreiche, allerdings nicht wohlhabende, Lehrerin. Wenigstens waren sie keine Saisonarbeiter, und sie brauchten auch nicht besonders viel Geld. Sie waren beide (jeder auf seine Weise) jung und verliebt, und sie wollten nur ein Kind - ein einziges -, das sie, im März 1942, auch bekamen.
    Der kleine Danny kam in Berlin zur Welt - »kurz vor der Schlammperiode«, wie sein Vater immer sagte (die Schlammperiode war eindeutiger als der Kalender) -, und gleich nach seiner Geburt zogen die hart arbeitenden Eltern des Jungen aus der Stadt weg. Für die empfindliche Nase des Kochs war der Gestank der Papierfabrik ein ständiger Affront. Wahrscheinlich würde der Krieg eines Tages vorbei sein, und dann würde Berlin wachsen und sich bis zur Unkenntlichkeit verändern, abgesehen von dem Gestank. Doch schon 1942 war die Stadt für Dominic Baciagalupo zu groß und zu übelriechend - und voller nicht nur guter Erinnerungen. Und Rosies Erfahrungen im North End ließen sie zögern, nach Boston zurückzuziehen, obwohl beide Familien, die Saettas wie die Calogeros, das junge Paar anflehten, doch »nach Hause« zu kommen.
    Kinder spüren, wenn sie nicht vorbehaltlos geliebt werden. Seine Mutter hatte sich verstoßen gefühlt, das wusste Dominic. Und obwohl Rosie sich offenbar mit den Umständen abfand, die sie gezwungen hatten, einen
Jungen
zu heiraten, nahm sie es ihrer Familie ausgesprochen übel, wie die sie damals nach Berlin verbannt hatte.
    Das Flehen der Familien Saetta und Calogero stieß auf taube Ohren. Wie konnten sie behaupten, alles sei vergeben? Anscheinend fanden sie es in Ordnung, dass Cousin und Cousine verheiratet waren und ein gemeinsames Kind hatten, aber Dominic und Rosie erinnerten sich noch gut daran, dass es für eine Saetta und eine Calogero
nicht
in Ordnung gewesen war, schwanger und unverheiratet zu sein.
    »Sollen sie eine andere finden, der sie vergeben können«, formulierte es Rosie. Dominic, der Nunzis Haltung dazu kannte, pflichtete Rosie bei. Boston war eine Brücke, die man hinter  ihnen verbrannt hatte; wichtiger noch, die beiden jungen Leute waren überzeugt, dass nicht sie sie verbrannt hatten.
    Gewiss war moralische Achtung in Neuengland nichts Neues, nicht 1942. Und auch wenn vielleicht die meisten jungen Paare Boston einem Kaff wie Twisted River vorgezogen hätten, hängen ihre Entscheidungen immer von den konkreten Umständen ab. Für die junge Familie Baciagalupo mochte Twisted River zwar abgelegen und ein rauhes Pflaster sein, doch hier gab es keine Papierfabrik. Sägewerk und Holzfällercamp hatten noch nie einen Koch über eine Schlammperiode hinweg behalten, und es gab auch keine Schule - nicht in einem überwiegend von Wanderarbeitern bewohnten Ort. Allerdings bestand Bedarf für eine Schule in der kleineren, aber solider gebauten Siedlung namens Paris (dem ehemaligen West Dummer), die am Phillips Brook, nur wenige Kilometer auf der Holzabfuhrstraße von dem deutlich schäbigeren Ort Twisted River entfernt, lag, wo das Holzunternehmen bislang kein dauerhaftes Kochhaus finanzieren wollte. Laut der Firma waren die zerlegbare, improvisierte Küche und die Wanigans als Esshütten ausreichend. Dass Twisted River dadurch eher wie ein Holzfällerlager als wie ein richtiger Ort aussah, entmutigte Dominic und Rosie Baciagalupo nicht, die Twisted River als Chance begriffen - und als Herausforderung.
    Im Sommer 1942 - es blieb ihnen also genug Zeit, um für die neue Schule in Paris Lehrbücher und andere Dinge zu bestellen - folgten der Koch und die Lehrerin samt ihrem Söhnchen dem Androscoggin nordwärts bis Milan, anschließend reisten sie auf der vom Pontook-Stausee kommenden Abfuhrstraße weiter, in nordnordwestlicher Richtung. Die Stelle, wo der Twisted River in den Pontook mündete, hieß

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