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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Die Schulrowdys von Paris hatten sich darauf verlegt, den Sohn des Kochs zu quälen - und das nicht nur, weil Danny in Twisted River wohnte und sein Dad hinkte. Sie hänselten den Jungen auch, weil er sich immer um eine korrekte Ausdrucksweise bemühte. Danny artikulierte präzise; wenn er sprach, verschliff er nie die Konsonanten oder dehnte die Vokale wie die Kinder aus Paris, und deshalb drangsalierten sie ihn. (»Die Gören aus West Dummer«, wie Ketchum sie durchwegs nannte.)
    »Halt die Stellung, Daniel - aber bleib am Leben«, empfahl ihm sein Vater, wie vorauszusehen war. »Eines schönen Tages ziehen wir hier weg, das verspreche ich dir.«
    Doch trotz ihrer Mängel und seiner traurigen Familiengeschichte war die Paris Manufacturing Company School am Phillips Brook die einzige Schule, die der Junge bisher besucht hatte. Schon allein die Vorstellung, diese Schule zu verlassen, beunruhigte Danny Baciagalupo.
     
    »Angel war zu unerfahren, um im Wald Bäume zu fällen oder auf den Holzplattformen zu arbeiten«, war Ketchum vom Klappbett in der Küche aus zu vernehmen. Der Koch und sein Sohn wussten, dass Ketchum im Schlaf redete, besonders wenn er getrunken hatte.
    Es gab zwei Arten, Baumstämme zu verladen. Zum einen mittels einer Holzplattform, die aus einer Art Gitter aus Baumstämmen bestand und in die Böschung neben einer Holzabfuhr-Straße gebaut wurde; sie musste ein wenig höher sein als die Ladeflächen der neben ihr haltenden Holzlaster. Dahinter lagerten die gefällten Baumstämme bis zu ihrem Abtransport. Zum anderen konnte man eine Holzrutsche bauen, die bis zu einer Rampe neben dem Lkw reichte, von wo eine Motor- oder von einem Pferd betriebene Windenkonstruktion die Stämme dann auf die Ladefläche hievte. Wäre es nach Ketchum gegangen, hätte Angel Pope nie etwas mit dem Auf- oder Abladen von Baumstämmen zu tun haben dürfen.
    Danny Baciagalupo hatte bereits mit dem Kochen begonnen, als der volltrunkene Ketchum zum zweiten Mal redete. »Er hätte Schnittholz schichten sollen, Cookie.« Der Koch, der am Herd stand, nickte, obwohl er genau wusste, dass Ketchum im Schlaf redete und ihn darum nicht sah.
    Bretter stapeln - oder eben »Schnittholz schichten«, wie der Fachmann sagte - war in einem Sägewerk eine Arbeit, die man gewöhnlich Anfängern überließ. Dafür wäre Angel nicht zu unerfahren gewesen, das hätte selbst der Koch eingesehen. Das Schnittholz wurde im Wechsel mit schmalen Querleisten geschichtet, damit die Luft zirkulieren konnte und die Bretter besser trockneten. Alles in allem eine Arbeit, die der Koch unter Umständen sogar Danny erlaubt hätte.
    »Rapide um sich greifende Mechanisierung«, nuschelte Ketchum. Hätte der stämmige Mann sich auch nur ein bisschen im Schlaf umgedreht, wäre er vom Klappbett gefallen oder es wäre unter ihm zusammengeklappt. Doch Ketchum lag starr auf dem Rücken, den Gips quer über den Brustkorb gelegt, als wartete er auf seine Seebestattung. Der geöffnete Schlafsack bedeckte ihn wie eine Flagge, und seine linke Hand berührte den Fußboden.
    »O Mann - jetzt geht das wieder los«, sagte der Koch und lächelte seinem Sohn zu. Die
rapide um sich greifende Mechanisierung
war Ketchum ein Dorn im Auge. 1954 tauchten bereits Baumrückmaschinen mit Gummireifen, sogenannte Skidder, in den Wäldern auf. Die größeren Bäume wurden vorwiegend von Traktoren geerntet; den kleineren Holzfällerteams zahlte man einen »Stücklohn« (nach Festmeter oder nach Schnittvolumen) für die Bäume, die von ihnen gefällt und an eine vorher festgelegte Stelle neben der Straße gebracht wurden. Als altgedienter Holzfäller, der Holz noch mit Pferden transportiert hatte, wusste Ketchum natürlich, dass die Bäume mit Skiddern schneller geerntet werden konnten. Doch Ketchum war kein Freund von Beschleunigung.
    Danny öffnete die Außentür und ging zum Pinkeln nach draußen. (Das hatte er von Ketchum gelernt, was Dominic gar nicht gefiel.) Es war noch dunkel, und der vom Fluss aufsteigende Nebel legte sich kalt und feucht auf das Gesicht des Jungen.
    »Diese Typen und ihre Dampfesel können mich mal!«, schrie Ketchum im Schlaf. »Und die Trucker, diese Arschlöcher, können mich auch mal!«
    »Da hast du ganz recht«, pflichtete der Koch seinem schlafenden Freund bei. Als Danny wieder hereinkam und die Außentür hinter sich zuzog, hatte Ketchum sich auf dem Klappbett aufgesetzt; offenbar war er von seinem eigenen Geschrei aufgewacht. Der Holzfäller bot einen

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