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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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einfach nur »die Flussenge«; dort gab es nicht einmal eine Sägemühle, und der im Bau befindliche Dead-Woman-Damm hatte noch keinen Namen. (Wie Ketchum später sagte: »Damals war alles längst nicht so schick.«)
    Noch vor Einbruch der Dunkelheit und vor den Mücken erreichte die junge Familie das Flussbecken unterhalb von Twisted River. Den wenigen, die sich an ihre Ankunft erinnerten, müssen der hinkende Mann und seine hübsche, aber älter aussehende Frau mit ihrem Säugling hoffnungsfroh vorgekommen sein, auch wenn sie an Kleidung kaum mehr dabei hatten als das, was sie am Leib trugen. Ihre Bücher sowie der Rest ihrer Kleidung, samt den Utensilien des Kochs, waren vor ihnen eingetroffen - in einem leeren Holzlaster, mit einer Plane bedeckt.
    Eine gründliche Reinigung reichte bei den Küchen- und Ess-Wanigans nicht aus: Sie mussten generalüberholt werden. Darauf bestand der Koch. Und wenn das Holzunternehmen von ihm erwartete, über die nächste Schlammperiode hinaus zu bleiben, würde es ein dauerhaftes Kochhaus bauen müssen, mit Schlafzimmern im ersten Stock, in denen der Koch und seine Familie wohnen könnten.
    Rosies Forderungen waren bescheidener: Für Paris, vormals West Dummer, wo es noch nie eine Schule gegeben hatte, würde ein Schulhaus mit einem Raum ausreichen. 1942 gab es am Phillips Brook nur wenige Familien mit schulpflichtigen Kindern und noch weniger in Twisted River. Bald würden es mehr werden - nach dem Krieg, wenn die Männer nach Hause kamen -, aber Rosie Baciagalupo, vormals Calogero, würde weder erleben, wie die Männer aus dem Krieg zurückkehrten, noch würde sie jemals deren Kinder unterrichten.
    Die junge Schullehrerin starb im Spätwinter des Jahres 1944, kurz nachdem ihr Sohn Dan zwei geworden war. Der Junge hatte keine Erinnerung an seine Mutter, er kannte sie nur von den Fotos, die sein Vater aufgehoben hatte - und den Stellen, die sie in ihren vielen Büchern unterstrichen hatte. Auch die hatte sein Dad aufbewahrt. (Genau wie Dominic Baciagalupos Mutter hatte Rosie gern Romane gelesen.)
    Dominics augenscheinlicher Pessimismus - sein Benehmen hatte etwas Unnahbares, sein Auftreten wirkte distanziert, ja selbst seine Haltung war irgendwie melancholisch - legte den Schluss nahe, dass er sich von dem tragischen Tod seiner 27-jährigen Frau nie erholt hatte. Doch neben seinem geliebten Sohn hatte Dominic Baciagalupo noch etwas bekommen, was er unbedingt gewollt hatte: Das Kochhaus war nach seinen Vorgaben gebaut worden.
    Was offenbar an einem guten Draht zur Paris Manufacturing Company lag. Die Frau irgendeines hohen Tieres hatte auf der Durchreise in Berlin haltgemacht und anschließend von Dominics Kochkünsten geschwärmt. Das hatte sich herumgesprochen: Sein Essen war weit besser als der in Holzfällercamps übliche Fraß. Es wäre in Dominics Augen nicht korrekt gewesen, wenn er nach dem Tod seiner Frau einfach seine Siebensachen gepackt hätte und abgereist wäre, doch der Koch und sein Sohn waren sogar zehn Jahre geblieben.
    Natürlich gab es den einen oder anderen alten Holzarbeiter - allen voran Ketchum -, der den traurigen Grund kannte. Der mit zwanzig verwitwete Koch machte sich selbst für den Tod seiner Frau verantwortlich - und er war nicht der einzige Mann, dessen Leben in Twisted River dem gnadenlos in die Länge gezogenen Abbüßen einer Sünde glich. (Man denke nur an Ketchum.)
     
    1954 war Dominic Baciagalupo erst dreißig - ein junger Vater für einen zwölfjährigen Sohn -, doch der Koch sah aus wie jemand, der sich längst mit seinem Schicksal abgefunden hatte. Er war so unerschütterlich ruhig, dass ihn eine Aura von Fatalismus umgab, die man leicht mit Pessimismus verwechseln konnte. Doch die Hingabe, mit der er sich um seinen Sohn Daniel kümmerte, hatte überhaupt nichts Pessimistisches, und nur wenn es um das Wohl seines Jungen ging, klagte der Koch auch einmal darüber, wie hart und entbehrungsreich das Leben in Twisted River war - beispielsweise gab es in dem Ort immer noch keine Schule.
    In der Schule, die von der Paris Manufacturing Company am Phillips Brook für Rosie Baciagalupo gebaut worden war, hatte sich seit ihrem Tod nichts groß verändert. Zugegeben, die Zwergschule hatte inzwischen ein neues Gebäude bekommen, doch die älteren Jungen, die ein- oder zweimal sitzengeblieben waren, gaben mit ihren aggressiven Umgangsformen weiterhin den Ton an. Sie waren nicht zu bändigen - die leidgeprüfte Lehrerin war eben keine Rosie Baciagalupo.

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