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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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fragend.
    »Das heißt vermutlich >Schlaf gut<«, sagte Danny.
    »Scheiße«, sagte Ketchum dazu nur und trat in den Boden. »Scheiße«, wiederholte er.
    Die beiden Männer sahen zu, wie Carmella mühsam den Hügel erklomm. Das hohe, wogende Gras reichte ihrer untersetzten, bärenhaften Gestalt bis an die Hüften, und der Wind kam von hinten, vom Fluss, und ließ die Haare von ihrem gesenkten Kopf abstehen. Als Carmella auf der Hügelkuppe ankam, wo das Kochhaus gestanden hatte, beugte sie sich vor und stützte beide Hände auf die Knie. Eine oder zwei Sekunden lang - nicht länger, als Carmella brauchte, um Atem zu schöpfen - sah Danny in ihrem breiten, vornüber gebeugten Körper eine gespenstische Ähnlichkeit mit Indianer-Jane. Es schien, als wäre Jane an den Ort ihres Todes zurückgekehrt, um sich von der Asche des Kochs zu verabschieden.
    Ketchum hatte das Gesicht zur Sonne erhoben. Die Augen hielt er geschlossen, bewegte aber die Füße - nur kleine Trippelschrittchen, in keine bestimmte Richtung, als laufe er über treibende Baumstämme. »Sag's noch mal, Danny«, sagte der alte Flößer.
    »Schlaf gut«, sagte Danny.
    »Nein, nein - auf
Italienisch!«,
befahl Ketchum. Er hielt die Augen noch immer geschlossen und bewegte die Füße; Danny wusste, dass der Flößer nur versuchte, nicht unterzugehen.
    »Dormipur«,
sagte Danny.
    »Scheiße,
Angel!«, rief Ketchum. »Ich hab doch gesagt: >Beweg deine Füße, Angel. Du musst die
Füße
bewegen!< So 'ne Scheiße.«
     
    Es war für Sixpack-Pam ein zutiefst verwirrender Morgen gewesen. Sie arbeitete gern früh in ihrem Garten - sogar noch ehe sie die Hunde fütterte oder Kaffee kochte und so lange ihre Hüffe mitmachte. Zuerst war Ketchum gekommen und hatte auf seine unnachahmliche Art alles durcheinandergebracht, und sie hatte das Sulfonamid auf Heros Wunden getan - alles noch bevor sie ihre eigenen Hunde gefüttert und sich einen Kaffee gemacht hatte. Wegen Ketchums mutwilliger Störung ihres Tagesablaufs und weil sie den armen, übel zugerichteten Hund versorgen musste, schaltete Sixpack den Fernseher ein wenig später als gewöhnlich ein, aber immer noch früh genug.
    Zum Teil war sie ja selbst schuld, dachte Pam: Schließlich hatte sie darum gebeten, Danny und diese Italienerin zu sehen, die Cookies Geliebte gewesen war - die Ersatz-Indianer-Jane, wie Sixpack Carmella insgeheim nannte. Pam hatte mit ihnen ihren Frieden machen wollen, doch jetzt war sie hin- und hergerissen. Sie hatte es als Schock empfunden, dass Danny heute fast dreißig Jahre älter war als sein Vater damals - das heißt, als Sixpack den kleinen Koch zum letzten Mal gesehen hatte. Und jetzt erst, nachdem Pam sich bei Danny und Carmella entschuldigt hatte, wurde ihr klar, dass sie eigentlich von
Ketchum
Vergebung wollte; auch das war irritierend. Außerdem musste sie weinen, als sie Heros Wunden versorgte, als wären es
Ketchums
Wunden, die sie vergeblich zu heilen versuchte. In genau diesem verwirrenden Augenblick - auf dem Höhepunkt ihrer bittersten Enttäuschung, wie Sixpack glaubte - schaltete sie den Fernseher ein.
    Auch die Welt würde sie gleich überwältigen, doch das wusste Sixpack nicht, als sie die Verwüstung sah, die das erste entführte Passagierflugzeug angerichtet hatte; der American-Airlines-Flug Nummer 11 aus Boston war in den Nordturm des World Trade Center gerast, wo das Flugzeug ein klaffendes Loch in das Hochhaus gerissen und es in Brand gesetzt hatte. »Das muss ein kleines Flugzeug gewesen sein«, sagte jemand im Fernsehen, doch das glaubte Sixpack-Pam nicht.
    »Sieht das wie ein Loch von einem
kleinen
Flugzeug aus, Hero?«, fragte Sixpack den verletzten Walker Bluetick. Der stoische Jagdhund ließ Sixpacks Schäferhundrüden nicht aus den Augen, der mit ihm unter dem Küchentisch war, und reagierte nicht auf Pams Frage. (Weil Hero mit Ketchum zusammenlebte, war es für ihn Routine, angesprochen zu werden; der Hund wusste, dass Ketchum keine Reaktion erwartete.)
    Pam schaute sich weiter die Nachrichten über den Flugzeugabsturz an. Im Fernsehen sah es aus, als wäre es auch in New York ein strahlend sonniger Tag - kein Tag von der Sorte, an dem ein Pilot Probleme mit den Sichtverhältnissen hat, dachte Sixpack.
    Sixpack bereute, dass sie zugegeben hatte, sie habe »mal ein Auge auf Cookie geworfen« - war das nicht ihre Formulierung gewesen? Pam hätte sich ohrfeigen können, weil sie das innerhalb von Ketchums verminderter Hörweite gesagt hatte. Jedes Mal, wenn

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