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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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trank gierig aus dem Fluss; das Tier beobachtete sie immer noch, aber ohne Scheu. Etwas stimmte nicht mit ihm.
    »Bitte erschießen Sie ihn nicht, Mr. Ketchum«, bat Carmella.
    »Wenn er tagsüber nicht vor uns davonläuft, muss er krank sein«, erklärte ihr der Waldarbeiter. Danny reichte ihm den Karabiner. Der Kojote saß am gegenüberliegenden Ufer und beobachtete sie immer teilnahmsloser; es schien fast, als führte das Tier Selbstgespräche.
    »Wir sollten heute nichts töten, Mr. Ketchum«, sagte Carmella. Ketchum senkte die Waffe, hob einen Stein auf und warf ihn in Richtung Kojote ins Wasser, doch das Tier zuckte nicht einmal. Es wirkte apathisch.
    »Das Viech ist eindeutig krank«, stellte Ketchum fest. Der Kojote trank noch einen großen Schluck Wasser, dabei sah er sie nicht einmal mehr an. »Seht nur, wie durstig er ist - er stirbt an irgendwas.«
    »Ist gerade Jagdzeit für Kojoten?«, fragte Danny den alten Holzfäller.
    »Kojoten darf man immer jagen«, sagte Ketchum. »Sie sind schlimmer als Waldmurmeltiere - sie sind
Ungeziefer.
Die taugen zu rein gar nichts. Für Kojoten gibt es keine Abschussquote.
    Vom ersten Januar bis Ende März darf man sie sogar nachts jagen, so dringend will der Staat diese Viecher loswerden.«
    Doch Carmella war nicht überzeugt. »Heute will ich nichts sterben sehen«, bekräftigte sie. Ketchum sah, wie sie Kusshände über das Wasser warf, entweder um die Stelle zu segnen, wo ihr Angelù untergegangen war, oder um dem Kojoten ein langes Leben zu wünschen.
    »Mach deinen Frieden mit dieser Asche, Danny«, sagte der Waldarbeiter. »Du weißt doch, wo du das Glas in den Fluss werfen sollst?«
    »Ich habe meinen Frieden gemacht«, sagte Danny. Er küsste zum Abschied das Apfelsaftglas mit der Asche des Kochs darin. »Fertig?«, fragte Danny den Schützen.
    »Wirf einfach«, antwortete Ketchum. Carmella hielt sich beide Ohren zu, und Danny warf das Glas - fast bis in die Mitte des Flussbeckens. Ketchum hob den Karabiner und wartete, bis es wieder an die Wasseroberfläche kam; ein Schuss aus der Remington ließ das Apfelsaftglas zersplittern und verteilte so Dominic Baciagalupos Asche im Twisted River.
    Als der Schuss ertönte, duckte sich am anderen Ufer der Kojote, wich aber unbegreiflicherweise nicht von der Stelle. »Du erbärmliches Drecksviech«, rief Ketchum zu dem Tier. »Wenn du nicht genug Verstand hast, um zu fliehen, dann bist du jetzt schon halb tot. - Verzeihung«, sagte der alte Holzfäller leise zu Carmella. Die Flinte - Ketchums »zuverlässige alte Repetierbüchse« - funktionierte tadellos. Er schoss dem Kojoten in den Schädel, als das Tier sich wieder vorbeugte, um zu trinken. »Das hätte ich mit Carl machen sollen«, meinte Ketchum, ohne Carmella anzusehen. »Dazu war jederzeit Gelegenheit gewesen. Ich hätte den Cowboy abknallen sollen wie irgendeinen Schädling. Tut mir leid, dass ich es nicht getan habe, Danny.«
    »Ist schon okay, Ketchum«, sagte Danny. »Ich habe immer verstanden, warum du ihn nicht einfach töten konntest.«
    »Aber ich hätte es tun
sollen!«,
rief der Holzfäller zornig. »Nur meine beschissene Moral hat mich davon abgehalten!«
    »Moral ist nicht beschissen, Mr. Ketchum«, hob Carmella an, doch als sie den toten Kojoten ansah, sagte sie kein Wort mehr; der Kojote lag reglos am Flussufer, und seine Nasenspitze hing ins fließende Wasser.
    »Mach's gut, Paps«, sagte Danny zu dem strömenden Fluss. Er wandte sich davon ab und sah hoch zum grasbewachsenen Hügel, auf dem das Kochhaus gestanden hatte - und wo er Indianer-Jane, die Geliebte seines Vaters, für einen Bären gehalten hatte, mit katastrophalen Folgen.
    »Mach's gut, Cookie!«, rief Ketchum aufs Wasser hinaus.
    »Dormi pur«,
sang Carmella und bekreuzigte sich; abrupt wandte sie dann dem Fluss, in dem Angel unter den Stämmen verschwunden war, den Rücken zu. »Ich brauche jetzt einen kleinen Vorsprung«, sagte sie zu den beiden Männern und machte sich langsam auf den Rückweg durch das hohe Gras, den Hügel hinauf - ohne sich noch ein einziges Mal umzusehen.
    »Was hat sie gesungen?«, wollte Ketchum von Danny wissen.
    Es war aus einer alten Caruso-Aufnahme, erinnerte sich Danny.
Quartetto Notturno
- ein Wiegenlied aus einer Oper. Danny hatte vergessen, wie die Oper hieß, doch das Wiegenlied hatte Carmella bestimmt dem kleinen Angelù vor dem Einschlafen vorgesungen.
»Dormipur«,
wiederholte Danny für Ketchum. »>Schlafe rein.<«
    »Rein?«,
wiederholte Ketchum

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