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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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ersten, den er als Daniel Baciagalupo schrieb. Langsam und Schritt für Schritt arbeitete er sich
rückwärts
durch die Handlung nach vorn, bis zu der Stelle, wo das Buch seiner Ansicht nach beginnen sollte. So war er schon immer vorgegangen: Er entwarf die Handlung einer Geschichte von hinten nach vorn, verfasste folglich das erste Kapitel
zuletzt.
Wenn Danny schließlich beim ersten Satz ankam - also an dem Zeitpunkt, wo er den ersten Satz des Buches zu Papier brachte -, waren oft zwei oder mehr Jahre vergangen, doch inzwischen kannte er die gesamte Story. Von diesem ersten Satz strömte das Buch vorwärts - oder, für Danny selbst, rückwärts bis zu der Stelle, wo er angefangen hatte.
    Und ebenfalls wie immer fiel mehr und mehr von dem ab, was als Dannys politische Seite galt, je tiefer er in den Roman eintauchte. Zwar waren Dannys politische Positionen echt, doch er hätte bereitwillig eingeräumt, dass
er jeder
Form von Politik argwöhnisch gegenüberstand. War er nicht auch deshalb Schriftsteller geworden, weil er die Welt auf eine betont subjektive Art und Weise sah? Und Geschichtenschreiben war nicht nur das, was Daniel Baciagalupo am besten konnte - er tat auch nichts anderes. Er war Handwerker, kein Theoretiker; er war Geschichtenerzähler, kein Intellektueller.
    Doch ob er wollte oder nicht, Danny musste immer wieder an die beiden amerikanischen Hubschrauber in Saigon denken - daran, wie sich diese armen Menschen an die Hubschrauber klammerten - und an die Hunderte verzweifelter Südvietnamesen, die man im Hof der US-Botschaft zurückließ. Der Schriftsteller zweifelte nicht daran, dass er so etwas (oder etwas Ähnliches) auch im Irak zu sehen bekommen würde. Die Schatten Vietnams, dachte Danny - typisch für sein Alter, denn der Irak war kein zweites Vietnam. (In dieser Beziehung war Daniel Baciagalupo ein echtes Kind der Sixties, und daran würde sich auch nichts mehr ändern.)
    Ohne große Überzeugung sprach Danny zu dem gähnenden Hund, der ansonsten aber keinerlei Reaktion zeigte. »Ich wette mit dir um eine Schachtel Hundekuchen, Hero: Alles wird noch viel schlimmer werden, ehe es ein klein wenig besser wird.« Hero, der Bärenjäger, reagierte nicht einmal auf das Wort
Hundekuchen;
er fand Politik genauso langweilig wie Danny. Die Welt war doch so wie immer, oder? Wer von ihnen würde je etwas daran ändern, wie die Welt funktionierte? Ein Schriftsteller ganz gewiss nicht; Heros Chancen, die Welt zu verändern, waren genauso groß wie Dannys. (Zum Glück verschwieg das Danny Hero, er wollte den edlen Hund nicht beleidigen.)
     
    An einem Dezembermorgen des Jahres 2004, nachdem die letzte (und schon wieder vergessene) Frage an Ketchum an die Tür von Dannys Kühlschrank geklebt worden war, fand Lupita - die äußerst treue und leidgeprüfte mexikanische Putzfrau - den Schriftsteller in seiner Küche vor, wo Danny saß und schrieb. Das irritierte Lupita, die für die Ordnung im Haushalt zuständig war und sehr entschiedene Ansichten zu dem Thema hatte, für welche Tätigkeiten die einzelnen Zimmer gedacht waren.
    Lupita nahm es, wenn auch widerwillig, hin, dass im Fitnessraum, wo keine Schreibmaschine stand, Klemmbretter und ein angebrochener Stapel Schreibmaschinenpapier herumlagen. Die Unmengen von Zetteln, die überall im Haus klebten, waren für sie ein Quell ständigen Ärgers, den sie aber unterdrückte. Die politischen Fragen an Mr. Ketchum an der Kühlschranktür las Lupita, wenn überhaupt, mit schwindendem Interesse; die mit Klebestreifen befestigten Belanglosigkeiten störten Lupita, weil sie sie daran hinderten, die Kühlschranktür sauberzuwischen.
    Die Arbeit in Dannys Haus am Cluny Drive hatte Lupita bisher einen Kummer nach dem anderen eingebracht. Dass Mr. Ketchum Weihnachten nicht mehr nach Toronto kam, ließ die mexikanische Putzfrau regelmäßig, und besonders gegen Ende des Jahres, in Tränen ausbrechen, und bei ihren Bemühungen, das Schlafzimmer des verstorbenen Kochs nach der Schießerei zu säubern und wieder herzurichten, wäre sie vor Kummer fast gestorben. Natürlich war das blutgetränkte Bett entfernt und die Tapete ausgetauscht worden, aber Lupita hatte jeden blutbespritzten Schnappschuss an Dominics Pinnwänden einzeln saubergewischt. Außerdem hatte sie den Fußboden so gründlich geschrubbt, dass sie dachte, ihre Knie und Handballen müssten gleich anfangen zu bluten. Sie hatte Danny überredet, auch die Vorhänge auszuwechseln, sonst hätte sich der Geruch von

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