Letzte Nacht in Twisted River
aufhalten und ihm das Leben retten. Man stirbt nicht, wenn man sich die Hand abschneidet.«
Doch Danny kam sich vor wie ein Ertrinkender; er sank und sank. (»Tja, sterben ist manchmal nicht so leicht, Danny, das sollte ein Schriftsteller wissen«, hatte der alte Holzfäller zu ihm gesagt.)
»Okay, Erin«, sagte Danny, doch seine Stimme klang seltsam fremd, auch für ihn. »Nehmen wir an, mein Freund
will
sterben. Angenommen, er will sich zwar die linke Hand abschneiden, aber
eigentlich
will er sterben. Was dann?«
Die Ärztin schlang ihr Essen hinunter; sie musste ein Weilchen kauen und schlucken, während Danny wartete. »Das ist einfach«, sagte Erin nach einem weiteren Schlückchen Wein. »Weiß dein Freund, was Aspirin ist? Er nimmt einfach ein paar Aspirin.«
»Aspirin«, wiederholte Danny wie betäubt. Er sah den Inhalt des Handschuhfachs von Ketchums Pick-up vor sich, als stünde die Klappe noch offen und als hätte Danny nie den Arm ausgestreckt und sie zugemacht - da waren die kleine Pistole und die große Flasche Aspirin.
»Beides Schmerzmittel«, hatte Ketchum sie beiläufig genannt. »Ohne Aspirin und eine Waffe würde ich nie aus dem Haus gehen«, hatte er gesagt.
»Aspirin blockiert gewisse Teile des Vorgangs, der die Blutplättchen aktiviert«, sagte Dr. Reilly gerade. »Wissenschaftlich gesprochen bedeutet das: Aspirin verhindert die Blutgerinnung.
Wenn dein Freund nur zwei Aspirintabletten im Körper hätte, würde die Gerinnung sehr wahrscheinlich zu spät einsetzen, um ihn noch zu retten. Und wenn er
unbedingt
sterben wollte, könnte er das Aspirin mit etwas Schnaps hinunterspülen; aufgrund eines völlig anderen Vorgangs verhindert auch Alkohol, dass die Plättchen aktiviert werden und verklumpen. Zwischen Aspirin und Alkohol käme es zu einem echten Synergieeffekt, der die Blutplättchen wirkungslos machte - sie würden nicht aneinanderhaften. Mit anderen Worten: keine Gerinnung. Dein einhändiger Freund würde sterben.« Als Erin merkte, dass Danny, ohne zu essen, auf seinen Teller starrte, verstummte sie. Bemerkenswert war auch, dass er sein Bier kaum angerührt hatte. »Danny?«, sagte seine Ärztin. »Ich wusste nicht, dass er ein
echter
Freund ist. Ich dachte, es wäre bestimmt eine Romanfigur und du hättest
Freund
nicht wörtlich gemeint. Es tut mir leid.«
An diesem Novemberabend war Danny vom Kiss of the Wolf nach Hause gelaufen. Er hatte Ketchum so schnell wie möglich anrufen wollen, ungestört. Es war eine kalte Nacht in Toronto. So spät im Herbst hatte es im Coos County, New Hampshire, wohl schon etliche Male geschneit.
Ketchum faxte kaum noch. Er rief Danny auch nicht mehr oft an - lange nicht so oft, wie Danny ihn anrief. An jenem Abend hatte er das Telefon ewig klingeln lassen. Danny hätte auch Sixpack angerufen, hatte aber ihre Telefonnummer nicht, und ihren Nachnamen hatte er noch nie gewusst - genauso wenig wie Ketchums Vornamen, falls der alte Holzfäller überhaupt einen hatte.
Er beschloss, Ketchum ein Fax zu schicken und ihn unter irgendeinem fadenscheinigen Vorwand um Sixpacks Telefonnummer zu bitten - für den Fall, dass es irgendwann mal einen Notfall geben sollte und Danny Ketchum nicht erreichte.
ich brauche keinen aufpasser, der mir nachspioniert!
Als Danny morgens erwachte und die Treppe herunterkam, hatte Ketchum schon zurückgefaxt. Doch nach ein paar weiteren Faxen und einem unerfreulichen Telefonat rückte Ketchum Six-packs Nummer heraus.
Erst im Dezember desselben Jahres, 2001, nahm Danny endlich all seinen Mut zusammen und rief Sixpack an, die am Telefon ziemlich einsilbig blieb. Ja, sie und Ketchum waren im Herbst ein paarmal zum Moose-Watch Pond gefahren und hatten den Elchen beim Tanzen zugesehen - oder beim »Herumtapsen«, wie Sixpack sagte. Ja, sie war auch mit Ketchum »beim Camping« gewesen, doch nur einmal, während eines Schneesturms, und wenn ihre Hüfte sie nicht die ganze Nacht wach gehalten hätte, dann hätte Ketchums Schnarchen das übernommen.
Auch hatte Danny in dem Jahr kein Glück bei dem Versuch, Ketchum zu überreden, Weihnachten in Toronto zu verbringen. Ketchum, so unabhängig wie eh und je, hatte sich nicht festlegen wollen: »Vielleicht komm ich vorbei, aber eher nicht.«
Und dann war auch schon die Zeit da, vor der es Daniel Baciagalupo inzwischen graute - wenige Tage vor Weihnachten, kurz vor dem ersten Jahrestag der Ermordung seines Dads. Er hatte im Kiss of the Wolf allein zu Abend gegessen und vor
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