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Letzte Nacht

Letzte Nacht

Titel: Letzte Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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einsetzen), die dünnen Socken schon nass, und folgt Nicolettes halb zugeschneiten Spuren über den Parkplatz zu dem dunklen, nur stellenweise beleuchteten Klotz des Einkaufszentrums. Ohne nachzudenken, streift er das Gummiband vom Handgelenk und feuert es in die Luft, wo es zwischen den Schneeflocken verschwindet. So ein rechtschaffenes Hochgefühl hat man bestimmt, wenn man kündigt, denkt Manny, doch während er noch die Zufahrtsstraße überquert und sich durch die Kälte schleppt, hat es sich verflüchtigt, und er ist müde. Er muss sich noch um Deenas Geschenk kümmern, das hat er schon zu lange aufgeschoben. Unwillkürlich fällt ihm ein, wie er den winzigen silbernen Verschluss der Halskette öffnete, um sie Jacquie zum ersten Mal anzulegen, wie Jacquie den Kopf vorbeugte und ihr Haar mit einer Hand raffte, sodass er den wuscheligen Haaransatz und den Knubbel des obersten Halswirbels sah, die Sommersprosse daneben ein perfekter Kreis.
    Eine Schaufel knallt auf den Boden, und ein großer Dieselmotor heult auf, das Scharren so nah, dass er schwören könnte, der Schneepflug wird ihn überfahren, aber nein, der Schnee und die unheimliche, gedämpfte Stille haben ihm bloß einen Streich gespielt. Hinter sich sieht er nur freie Parkplätze und ein paar Wagen, die bis zu den Radkappen im Schnee stecken. Der Schneepflug befindet sich auf der anderen Straßenseite, piept, macht dann wieder einen Satz nach vorn, und die Scheinwerfer gleiten über das Lobster, als würde es neu eröffnet. Der Schneeräumer ist da.

    Die schönste Zeit

    Das Einkaufszentrum verschluckt ihn. Er drückt den ersten Wall verchromter Schwingtüren auf, putzt die Schuhe auf der gerippten Gummimatte ab und schiebt sich durch die nächsten Türen in einen nicht allzu warmen, leeren Flur. Wie das Lobster ist auch das Willow Brook‐Einkaufszentrum schon alt, das Licht der Deckenleuchten ist so düster wie das in der Lobster‐Küche und wird vom Fußboden nur schwach reflektiert. Irgendwo spielt eine Blaskapelle ein trauriges «Good King Wenceslas», ansonsten sind das einzige Lebenszeichen zwei dreieckige VORSICHT,  FRISCH  GEWISCHT‐Warnpyramiden,  die aussehen wie Panzersperren – CUIDADO: PISO  MOJADO, zu spät übersetzt für seine Oma, mit einem nichtssagenden, nach hinten kippenden Strichmännchen, ein Bein ausgestreckt, das andere im Knie abgeknickt, die Hand in die Luft geworfen wie Travolta, als würde das Männchen einen Breakdance vorführen oder auf die Homeplate rutschen. Manny kennt sich in der Bodenpflege gut aus und sieht, dass hier schludrig gearbeitet wurde, einmal nass drüber, ohne nachzuwischen, da trocknet der Schmutz in Schlangenlinien, aber aus Respekt geht er um die feuchten Stellen herum.
    Die ersten zwanzig Meter des Flurs bestehen nur aus Wänden. Die Läden auf beiden Seiten sind geschlossen, aber nicht wegen des Schnees – sie stehen leer: dunkle, mit Teppichboden ausgelegte Kammern hinter Metallgittern, die eine großzügigere, vornehmere Form jener Wellblechtore darstellen, wie es sie in New York zum Schutz der Ladenfassaden gibt. Der Raum zur Rechten war ein Smokinggeschäft namens Finest Formals, der zur Linken ein Reisebüro, denkt er, und vorher vielleicht eine Shawmut Bank. Egal was, es hat sich nicht lange gehalten.
    Weit vorn, im Herzen des Einkaufszentrums, im Gegenlicht des hellen Innenhofs vor Penney’s, gleiten schattengleich ein paar Einkaufende dahin, unter ihnen auch eine Mutter mit Kinderwagen. Also haben die Läden noch geöffnet, ein gutes Zeichen. Mit schnellen Schritten stürzt er auf die dreiseitige Informationstafel zu – er hat nur eine halbe Stunde Mittagspause –, bleibt dann abrupt stehen, um den Etagenplan des Einkaufszentrums zu betrachten, farbig unterteilt wie das Spielbrett eines Kindes.
    Seine Mission ist einfach: Etwas kaufen, das ihr gefällt und wofür sie ihn lieben wird. Nichts Nützliches – wie eine neue Kamera, um das Baby zu knipsen (das steht auf einer anderen Liste); oder eine Bremsenreparatur an ihrem Elantra (nur auf seiner eigenen Liste, quälend wie ein Loch im Zahn oder das plötzlich verschwundene Gummiband). Es muss persönlich und doch überraschend sein, etwas, das ihm wie durch Zauberei einfällt, eine Konsumversion des Gedankenlesens. Innerhalb gewisser Grenzen spielt der Preis keine Rolle. Manny denkt an hundert, hundertfünfzig, er hat grundsätzlich einen teuren Geschmack. Es muss ein schönes Geschenk sein.
    Was zum Anziehen also? Im Moment passt

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