Letzte Rache: Thriller (German Edition)
im Moment so ziemlich alle Wünsche, die sie haben konnte. Längerfristig gesehen, das wusste sie, war ihre Karriere vorüber. Bis jetzt waren heute exakt null Bekundungen der Solidarität von irgendwelchen Vorgesetzten bei ihr eingetroffen. Der einzige Anruf war von der Personalabteilung gekommen, die ihr einen Sonderurlaub aus familiären Gründen anbieten wollte. Simpson schnaubte bei dem Gedanken. Was glaubten die, mit was für einem Trottel sie es zu tun hatten? Sobald man sie einmal vor die Tür gesetzt hatte, würde es schwierig, vielleicht sogar unmöglich, wieder hereinzukommen. Der Urlaub würde in eine – sehr – frühe Pensionierung münden oder, schlimmer noch, in eine Versetzung auf irgendeinen hoffnungslosen Job als Verbindungsbeamtin zur Gemeinde in einem beschissenen Teil der Hauptstadt.
Commander Simpson trommelte mit den Fingern auf dem Schreibtisch und versuchte nachzudenken. Der Familienanwalt, ein früherer Staatsanwaltnamens John Lucas, der eine erstaunliche Summe von achthundert Pfund pro Stunde berechnete, traf sich gerade mit Joshua in der Polizeistation Kentish Town – wenigstens hatte man ihn nicht hierher, nach Paddington gebracht! Sobald das vorüber war, würde Simpson mit Lucas sprechen müssen, um einen kompletten Lagebericht zu bekommen. In der Zwischenzeit konnte sie nur warten.
Zu keiner Zeit kam ihr der Gedanke, dass Joshua unschuldig sein könnte. Jetzt ging es nur noch um den Prozess. In ihrem Kopf konnte Simpson hören, wie sich das Getriebe des Systems knirschend in Bewegung setzte. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie auf der falschen Seite des Gesetzes. Ihr war kalt, und sie kam sich hilflos vor.
Langsam machte der Schock einer gewissen Frustration und Wut auf ihren Mann Platz. Wie sie befürchtet hatte, hatte Joshua sich von einer gefährlichen Mischung aus Habgier und Überheblichkeit verführen lassen. Es war dieser Brief, dachte sie, dieser verdammte Brief: Lebt wohl, ihr Trottel! Mit seiner Arroganz und Gehässigkeit war er für zwei amüsante Tagebuch-Storys in der Financial Times gut gewesen, aber letzten Endes hatte er nur dazu gedient, ein paar sehr wichtige Investoren zu verärgern, die Art von Leuten, die jemanden zugrunde richten konnten. Carole spürte wieder, wie ihr die Tränen kamen. Falls Joshua wirklich gedacht hatte, er könne seine Firma zumachen und aussteigen, ohne dass irgendjemand bemerkte, dass es ein riesiges schwarzes Loch gab, musste er verrückt gewesen sein. Andererseits musste er verrückt gewesen sein, das schwarze Loch überhaupt erst zu erschaffen.
Als das Telefon klingelte, zuckte sie zusammen. Sie ließ es klingeln, bis es wieder aufhörte. Ein paar Sekunden später steckte ihre Sekretärin, eine Aushilfskraft, die erst am Tag zuvor angefangen hatte, nervös den Kopf zur Tür herein.
»Commander? Der Bürgermeister ist am Telefon«, sagte die junge Frau und fuhr angesichts der anscheinenden Katatonie ihrer Chefin gleich fort: »Er sagt, er möchte kurz mit Ihnen sprechen. Er macht einen ziemlich wichtigen Eindruck.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, verschwand die junge Frau. Ein paar Sekunden später klingelte das Telefon erneut. Simpson nahm langsam den Hörer ab. »Hallo?«
»Carole?«
Simpson zwang sich dazu, sich aufrecht hinzusetzen. »Ja?«
»Hier ist Christian Holyrod.«
Sie versuchte, sich an ihre letzte Begegnung zu erinnern. Es war vor weniger als vierzehn Tagen bei einem Empfang in der City Hall gewesen, auf den ein Dinner zur Spendenbeschaffung folgte. Joshua hatte einen lächerlichen Geldbetrag für ihren Tisch ausgegeben. Holyrod war an jenem Abend sehr liebenswürdig zu ihnen gewesen, hatte über seine Pläne gesprochen, in der nationalen Politik eine größere Rolle zu spielen. Er hatte sogar angedeutet – unverhohlen angedeutet, sobald er sich über den Scotch hermachte –, dass er Downing Street ins Visier genommen hatte. Er umriss seine »mittelfristige Wahlkampfstrategie«, Edgar Carlton als Premierminister zu ersetzen, aber es wurde eindeutig die ganze Zeit immer kurzfristiger. Die Partei war inzwischen schon eine Weile an der Regierung, und die Unterstützung ließ nach. Holyrod war nicht der Einzige, der den Spitzenjob im Auge hatte. Eingefleischte Anhänger wie Joshua – reiche Parteigänger, die einen Führungsanspruch finanzieren könnten – wurden mehr denn je umworben, während rivalisierende Interessengruppen sich auf den Kampf vorbereiteten.
All das schien mittlerweile lange her zu sein.
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