Letzte Rache: Thriller (German Edition)

schien das Gemeinwohl immer hübsch auf die Interessen von Commander Simpson abgestimmt zu sein. Ihre Einstellung zum Job fand er vollkommen introvertiert, ja geradezu verstörend. Sie war zu sehr damit beschäftigt, Karriere zu machen, als sich um irgendwas anderes Gedanken zu machen.
    So wie er es sah, war sie entweder extrem selbstsüchtig, oder sie hatte die Selbstwahrnehmung eines Goldfischs. Jedenfalls betrachtete Carlyle sie mit einer Mischung aus großem Misstrauen und Antipathie. Er fand jedoch, dass er sie mit viel Mühe ganz gut ertragen konnte, wenn sich ihre Wege nicht allzu oft kreuzten. Wenn sie es taten, hatte er das Gefühl, als liefe sein Gehirn heiß, und er war immer kurz davor zu sagen, was er dachte.
    Simpson schaute auf die Notizen, die sie sich auf dem Block gemacht hatte.
    »Was diesen Bus angeht …«
    »Ja?«
    »Da hat es eine Beschwerde gegeben.« Simpsons Stimme klang entschieden neutral.
    »Ach?« Er setzte ein Gesicht auf, von dem er hoffte, es könne kein Wässerchen trüben, und konzentrierte sich darauf, es beizubehalten.
    »Eine Frau namens Sandra Groves behauptet, dass sie von Ihnen angegriffen worden sei«, fuhr Simpson fort. »Sie sagt, es gebe einen Beweis auf Video.«
    Sandra Groves? Plötzlich kam Carlyle die Eingebung, dass es sich bei ihr um die verrückte Frömmlerin aus dem Bus handeln musste; den Namen der Frau hatte er nie überprüft. Er grinste verlegen und befleißigte sich des Tonfalls eines zufälligen Beobachters, der mit niemandem ein Hühnchen zu rupfen hatte.
    »Na ja, passiert ist Folgendes …«
    Während der nächsten Minuten berichtete er Simpson, was sich in der vergangenen Woche ereignet hatte, wobei er alle Details beisteuerte, an die er sich erinnern konnte, ob sie sachdienlich waren oder nicht, ohne Sandra Groves’ Anschuldigung direkt oder indirekt anzusprechen. Dies tat er in der Gewissheit, dass Joe Szyszkowskis Bericht ihn hundertprozentig unterstützte. Außerdem waren Groves und ihr Freund nicht nur offiziell unter Anklage gestellt worden, sie hatten auch schon Vorstrafen wegen früherer Störungen der öffentlichen Ordnung und zwei nicht bezahlte Strafzettel wegen Falschparkens. Das Einzige, was ein Problem für ihn hätte bedeuten können, der Videofilm, war vom Memorystick der Kamera gelöscht worden. Nur sicherheitshalber war das Hinterrad eines Range Rover der Polizei in der Garage der Station Charing Cross – mehrere Male – zufällig über die Kamera selbst gefahren, bevor sie in einen Mülleimer am Strand geworfen worden war. Carlyle war überzeugt, dass ihre Überreste inzwischen bereits unterwegs zu einer illegalen Mülldeponie in Indien waren. Die Beschwerde könnte zu einer offiziellen Untersuchung führen, aber er wusste, dass ihm nichts geschehen konnte.
    »Und dann …«
    Sein Monolog wurde vom Geräusch eines Handys unterbrochen. Verärgert pflückte Simpson an verschiedenen Stücken Papier herum, bevor sie es auf dem Schreibtisch fand. Sie schaute im Display nach, wer da anrief, und sagte ohne Einleitung: »Einen Moment.« Sie stand auf, hielt Carlyle einen erhobenen Zeigefinger hin, um ihm zu signalisieren, dass sie nicht lange fortbleiben würde, und verließ das Zimmer.
    Als die Tür sich hinter ihr schloss, schaute Carlyle auf ihren Schreibtisch hinunter. Er beugte sich vor, weil er es sich nicht verkneifen konnte, einen Blick auf die Unterlagen zu werfen. Im Lauf der Jahre hatte er eine gewisse Übung darin erlangt, auf kurze Entfernung Sachen zu lesen, die auf dem Kopf standen. Neben einigen Papieren, die eindeutig als Berichte zum Fall Groves zu identifizieren waren, die er notfalls problemlos lesen konnte, wenn er zurück nach Charing Cross kam, lag eine nobel aussehende Einladungskarte. Die schwarzen Lettern waren ein bisschen klein, aber er konnte sie erkennen, ohne seinen Platz verlassen zu müssen.
    Christian Holyrod, Bürgermeister von London, und Claudio Orb, chilenischer Botschafter am Hof von St. James, laden Sie zu einem Empfang in der City Hall ein, den der Verband für englisch-chilenische Verteidigungstechnologie ausrichtet. Mit dem Ereignis soll die lange Geschichte der Zusammenarbeit und gegenseitigen Unterstützung unserer beiden großen Nationen und die seit Langem bestehende Beziehung zwischen England und dem chilenischen Seeheld Agustín Arturo Prat Chacón gefeiert werden.
    Noch mehr Chilenen. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass da eine Verbindung bestand? Er war dabei, sich zu fragen, wer