Letzte Runde in Mac's Place
Gewohnheit probierte Haynes die Tür, bevor er den Schlüssel benutzte. Sie war nicht abgeschlossen. Er sah Erika McCorkle an, und sie zuckte die Achseln. Haynes öffnete die Tür, sie traten ein und befanden sich in einer leeren Diele. Rechts war das Wohnzimmer. Links eine alte Garderobe mit Spiegel, möglicherweise eine Antiquität. An der Garderobe hing ein Dufflecoat. Direkt vor ihnen führte die Treppe ins erste Stockwerk hinauf.
»Jemand zu Hause?« rief Haynes.
Statt einer Antwort ertönte ein hämmerndes Klopfen, das aus einem Schrank unter dem Treppenaufgang zu kommen schien. Als sie an die Schranktür kamen, drehte Haynes am Knopf. Sie war verschlossen. Er klopfte an die Tür, und erneut kam das Hämmern.
»Knacken Sie das Schloß!« sagte Erika McCorkle.
»Womit?«
»Mit einer Kreditkarte.«
Er ignorierte ihren Rat und inspizierte die Tür. Sie schien dick und solide und von einem Tischler eingehängt zu sein, der über dem Fußboden die übliche Dreiviertel-Zoll-Spalte gelassen hatte.
Er wandte sich zu Erika McCorkle um und fragte: »Haben Sie an Ihrem Wagen schon mal ein Rad gewechselt?«
»Klar.«
»Kennen Sie das Ding, das die Schrauben vom Rad löst?«
»Der Mutternschlüssel.«
»Den könnte ich gebrauchen.«
Keine zwei Minuten später war sie mit dem Werkzeug zurück. Erleichtert sah Haynes, daß das eine Ende des Schlüssels eine abgeflachte Spitze bildete, mit der man Radkappen ablösen konnte. Er benutzte die provisorische Brechstange, um den Zapfen aus der oberen Türangel zu hebeln, um dann die Aktion an der unteren Angel zu wiederholen. Danach schob er die Finger beider Hände unter die Türkante und riß sie ruckartig hoch, so daß sie sich aus den Angeln löste.
In dem Schrank lag unter Gummistiefeln, alten Schuhen und zwei Paar antiken Galoschen eine Frau auf dem Rücken. Sie trug eine blaue Strickmütze. Ein fünf Zentimeter breiter Streifen Isolierband war über ihren Mund geklebt. Außerdem trug sie eine alte lederne Pilotenjacke und schlichte Blue Jeans, die in kostspieligen Reitstiefeln steckten. Die Stiefel waren an den Fußknöcheln mit Klebeband zusammengebunden. Ihre offenbar gefesselten Hände lagen unter dem Rücken.
»Lösen Sie das Isolierband von ihrem Mund«, sagte Haynes. »Inzwischen suche ich etwas, um sie loszuschneiden.«
Erika McCorkle nickte und kniete sich neben die Frau. Haynes drehte sich um und betrat das Wohnzimmer, das sechzig bis siebzig Jahre alte Möbelstücke enthielt, die nicht recht zueinander paßten und meistenteils um den Kamin standen. Eine jetzt offene Schiebetür trennte das Wohnzimmer vom Eßzimmer, das in ein Büro umgewandelt worden war, möbliert mit zwei angeschlagenen Metallschreibtischen und zwei ziemlich neuen Metallaktenschränken, die je vier Schubladen hatten. Außerdem waren zwei Telefone in dem Zimmer, eins auf jedem Schreibtisch, eine IBM-Typenradschreibmaschine und ein Personal-Computer. Eine Pendeltür führte vom Eßzimmer/Büro in die Küche, wo Haynes ein Schälmesser mit scharfer Klinge fand.
Er hastete zu dem Schrank unter der Treppe zurück. Das Isolierband war entfernt worden, und die Frau saß jetzt an die Rückwand des Schranks gelehnt, die Füße noch gefesselt, die Hände noch hinter dem Rücken. Sie blickte zu Haynes hoch und flüsterte: »Mein Gott!«
»Mr. Haynes«, sagte Erika McCorkle, »darf ich Sie mit Ihrer ehemaligen Stiefmutter Letitia Melon bekanntmachen. Letty, das ist Steadys Sohn, Granville.«
S ECHZEHN
Obschon keine strahlende Schönheit, war Letty Melon eine bemerkenswerte Frau von Anfang Vierzig, mit kurzem, dunklem Haar, tiefblauen, fast violetten Augen und der schleppenden Sprechweise Virginias als Vermächtnis, dessen sie sich bediente, um ihre augenblicklichen Bedürfnisse zu verkünden.
Ihr dringlichstes Bedürfnis, sagte sie, sei es zu pinkeln. Danach benötige sie einen Drink. »Irgendwo muß hier eine Flasche rumstehen«, sagte sie. »Wenn Sie in der Küche keine finden, sehen Sie hinter den Büchern im vorderen Zimmer nach. Dort hatte er gewöhnlich seine Notration.«
Als sie sich wieder zu Haynes und Erika McCorkle in die Küche gesellte, hatten diese im Bücherregal hinter Shirers Aufstieg und Fall des Dritten Reichs und Vidais Klette eine Flasche Scotch gefunden, Erika hatte überdies ein Glas Yuban- Instantkaffee und einen Kessel gefunden. Der Kessel auf dem Elektroherd begann gerade zu kochen.
Letty Melon setzte sich an den Küchentisch aus Kiefernholz, langte nach
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