Letzte Worte
nur an Tommy Braham.
Er war während ihrer Dienstzeit gestorben. Er war ihr Gefangener. Sie hatte ihn nicht durchsucht, als sie ihn in die Zelle steckte. Sie hatte angenommen, dass er, weil er schwer von Begriff war, auch ohne List war. Wer war denn jetzt dumm? Lena hatte den Jungen eines Mordes für fähig gehalten, aber auch für so harmlos, dass sie ihn mit einem scharfen Gegenstand in die Zelle hatte gehen lassen. Frank hatte recht– sie hatte Glück, dass Tommy mit dieser Waffe nicht auf jemand anderen losgegangen war.
Wann hatte Tommy die Mine aus ihrem Kugelschreiber gestohlen? Als er es tat, musste er gewusst haben, dass er damit etwas Schlechtes tun wollte. Als Tommy sein Geständnis geschrieben hatte, weinte er heftig. Die Kleenex-Schachtel war leer. Lena hatte ihn höchstens eine halbe Minute allein gelassen, um neue Papiertücher zu holen. Als sie in den Raum zurückgekehrt war, waren seine Hände unter dem Tisch. Sie hatte ihm die Nase abgewischt, als wäre er ein Kind. Sie hatte ihn getröstet, ihm die Schulter gestreichelt, ihm gesagt, dass alles gut werden würde. Er schien ihr zu glauben. Er hatte sich geschnäuzt, sich die Tränen vom Gesicht gewischt. Zu der Zeit hatte sie gedacht, Tommy hätte sich in sein Schicksal gefügt, aber vielleicht war das Schicksal, für das er sich entschieden hatte, ein ganz anderes als das, was Lena sich vorgestellt hatte.
War es Sympathie für Tommy oder ihr instinktiver Wunsch nach Selbstschutz, der Lena davon abgehalten hatte, den Brieföffner zu beseitigen, mit dem er Brad Stephens verletzt hatte? Gestern Abend hatte sie sich überlegt, ihn von einer der Tausenden von Betonbrücken zwischen hier und Macon ins Wasser zu werfen. Aber sie hatte es nicht getan. Er lag noch immer, eingewickelt in eine Tüte, unter dem Ersatzreifen im Kofferraum ihres Autos. Lena hatte ihn nicht im Haus haben wollen. Jetzt gefiel es ihr nicht, dass er so nahe beim Revier war. Frank hatte die Unterlagen manipuliert. Er hatte die Gewahrsamskette durchbrochen und Beweismittel manipuliert. Sie würde es dem alten Mann durchaus zutrauen, ihr Auto zu durchsuchen.
O Gott. Wozu war er sonst noch fähig?
Sie bog rechts in den Taylor Drive ein. Der Regen von gestern Nacht war der reinste Sturzbach gewesen und hatte das Blut weggewaschen. Doch vor ihrem geistigen Auge sah sie es immer noch vor sich. Wie Brad den Regen weggeblinzelt hatte. Wie seine Haut bereits grau wurde, als der Hubschrauber landete.
Lena fuhr auf die gegenüberliegende Straßenseite und hielt dort an. » Hier wurde auf Brad eingestochen. «
» Wo ist Spooners Wohnung? «, fragte Will.
Sie deutete die Straße hoch. » Vier Häuser weiter, auf der linken Straßenseite. «
Er schaute die Straße entlang. » Welche Nummer? «
» Sechzehneinhalb. « Lena legte den Gang ein und fuhr am Schauplatz des Messerangriffs vorbei. » Wir hatten die Adresse vom College. Wir waren hier, um zu sehen, ob es eine Zimmerkollegin oder einen Vermieter gibt, mit dem wir reden könnten. «
» Hatten Sie einen Durchsuchungsbeschluss? «
Er hatte diese Frage schon einmal gestellt. Sie gab ihm dieselbe Antwort. » Nein. Wir waren ja nicht hier, um das Haus zu durchsuchen. «
Sie wartete, ob noch etwas käme, aber Will schwieg. Lena fragte sich, ob es wirklich stimmte, was sie ihm erzählt hatte. Wenn Tommy nicht in Allisons Wohnung gewesen wäre, hätten sie dennoch einen Weg gefunden, in die Garage zu gelangen. Gordon Braham war nicht in der Stadt. So wie sie Frank kannte, hätte er das Schloss geknackt und wäre in Allisons Wohnung gegangen. Er hätte es mit der Bemerkung getan, dass es besser wäre, um Verzeihung als um Erlaubnis zu bitten. Keiner hätte wohl etwas gegen ein simples Eindringen gesagt, da ein junges Mädchen vom College ermordet worden war.
» Haben Sie die Nachbarn befragt? «, fragte Will.
Lena hielt vor dem Haus der Brahams an. » Das haben die Streifenbeamten getan. «
» Und was genau ist passiert? «
» Brad wurde in den Bauch gestochen. «
» Erzählen Sie von Anfang an. Sie haben hier angehalten… «
Sie versuchte, tief Luft zu holen, doch ihre Lunge wollte sich nur zur Hälfte mit Luft füllen. » Wir näherten uns der Garage… «
» Nein « , unterbrach er sie, » ganz von Anfang an. Sie sind hierhergefahren. Und dann? «
» Brad war bereits da. « Sie sagte ihm nichts von Brads pinkfarbenem Regenschirm und von Franks Schreianfall.
» Sie stiegen aus dem Auto? « , fragte Will. Er hatte wirklich vor,
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