Letzte Worte
froh, dass du nicht hier bist!
Wenige Wochen vor Jeffreys Tod hatte Sara ihm eine signierte Erstausgabe von MacKinlay Kantors Andersonville geschenkt. Sara war es schwergefallen, sich von dem Buch zu trennen, auch wenn sie wusste, dass sie es tun musste. Sie konnte Jeffreys Sarg der Erinnerungen nicht ohne einen eigenen Beitrag in die Erde sinken lassen. Stundenlang hatte Dan Brock bei ihr im Wohnzimmer gesessen, bis sie bereit war, das Buch herzugeben. Sie hatte jede Seite angeschaut, die Stellen berührt, wo Jeffreys Hand gelegen hatte. Dan war geduldig und still gewesen, aber als er dann ging, weinte er genauso heftig wie Sara.
Sie zog ein Papiertaschentuch aus dem Handschuhfach und wischte sich die Augen ab. Sie würde flennen wie ein Kind, wenn sie ihre Gedanken jetzt weiter herumschweifen ließe. Ihre Jacke lag auf dem Beifahrersitz. Sara zog sie erst gar nicht an. In der Jackentasche fand sie eine Klammer und befestigte sich damit die Haare am Hinterkopf. Dann kontrollierte sie das krause Durcheinander im Spiegel. Sie hätte morgens ein wenig Make-up auflegen sollen. Die Sommersprossen um ihre Nase waren noch deutlicher als sonst zu sehen. Ihre Haut war blass. Sara schob den Spiegel weg. Jetzt konnte sie sowieso nichts mehr tun.
Das letzte Auto reihte sich in den Trauerzug ein. Sara sprang aus ihrem SUV und wäre beinahe in eine Pfütze getappt. Es regnete heftig, und sie versuchte vergeblich, den Kopf mit den Händen zu schützen. Brock stand in der Tür und winkte ihr zu. Seine Haare waren schütterer als früher, aber mit seinem dreiteiligen Anzug und der schlaksigen Gestalt sah Dan Brock noch immer fast so aus wie in der Highschool.
» Hallo. « Er lächelte flüchtig. » Du bist die Erste. Ich hab Frank gesagt, wir fangen so gegen elf dreißig an. «
» Ich dachte, ich bereite schon mal alles vor. «
» Ich glaube, da habe ich dir schon einiges abgenommen. « Er schenkte ihr ein Lächeln, das für Trauernde reserviert zu sein schien. » Wie geht’s dir, Sara? «
Sie versuchte, das Lächeln zu erwidern, aber seine Frage konnte sie nicht beantworten. Schon gestern im Gefängnis hatte sie sich nicht lange mit Höflichkeiten aufgehalten, als Brock kam, um Tommy Brahams Leiche abzuholen, und auch jetzt fühlte sie sich in seiner Gegenwart ein wenig verlegen. Wie immer entspannte Brock die Situation.
» Ach, komm her. « Er nahm sie in seine Arme. » Du siehst klasse aus, Sara. Wirklich gut. Freut mich sehr, dass du über die Ferien heimgekommen bist. Deine Mutter muss sehr glücklich sein. «
» Zumindest mein Vater ist es. «
Einen Arm um ihre Schultern gelegt führte er sie ins Haus. » Nichts wie raus aus diesem unfreundlichen Wetter! «
» Wow. « Sie blieb in der Tür stehen und schaute sich in der großen Diele um. Ihre Eltern waren nicht die Einzigen, die in letzter Zeit renoviert hatten. Das etwas altmodische Dekor des Hauses war deutlich modernisiert worden. Die schweren Samtvorhänge und der dunkelgrüne Teppichboden waren italienischen Rollos und einem Orientteppich in gedämpften Farben auf einem wunderbaren Dielenboden gewichen. Sogar die Ausstellungsräume waren modernisiert worden, sodass sie nicht mehr an steife viktorianische Salons erinnerten.
Brock sagte: » Mom hasst es, also muss ich irgendetwas richtig gemacht haben. «
» Das ist dir wunderbar gelungen « , entgegnete sie, weil sie wusste, dass Brock wahrscheinlich nicht viele Komplimente bekam.
» Die Geschäfte laufen gut. « Brock behielt seine Hand an ihrem Rücken, als er sie den Gang entlangführte. » Ich muss zugeben, ich bin wirklich bestürzt wegen Tommy. Er war ein guter Junge. Er hat meinen Rasen gemäht. « Brock blieb stehen. Mit veränderter Miene schaute er Sara an. » Ich weiß, die Leute halten mich für naiv und glauben, dass ich immer nur das Gute im Menschen sehe, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er das alles getan haben soll. «
» Sich umzubringen oder das Mädchen umzubringen? «
» Beides. « Brock biss sich auf die Unterlippe. » Tommy war ein glücklicher Junge. Du weißt doch, wie er war. Nie ein böses Wort über irgendjemanden. «
Sara war vorsichtiger. » Menschen können einen überraschen. «
» Vielleicht mit ihrer Ignoranz – dass sie denken, nur weil der Junge schwer von Begriff war, hat sein Gehirn irgendwann einfach umgeschaltet, und er ist aggressiv geworden. «
» Du hast recht. « Tommy war geistig behindert. Er war kein Psychopath. Das eine hatte mit dem
Weitere Kostenlose Bücher