Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
zuvor üben konnten, sich darin zu bewegen. Das an den Vortagen immer wieder geprobte Bild, in dem die Räuber den in letzter Minute vom Galgen befreiten Roller im Triumphzug ins Lager trugen, sollte nun endlich einmal ohne jede Unterbrechung durchlaufen. Richlind, die natürlich nicht jeder einzelnen der reichlichen Einzelproben beigewohnt hatte, war um so gespannter darauf, jetzt zu sehen, inwieweit es Erdmann Jansen gelungen war, mit Laiendarstellern, und noch dazu mit Schülern, diese bewegte Szene zu arrangieren.
Und da ist es denn soweit, der Vorhang geht auf.
„Die Nürnberger henken keinen, sie hätten ihn denn!“ singen sie da capo hinter der Szene. „Freiheit!-Freiheit!“-Rufe erschallen, in die sich der Satz, von einem Naseweisen ausgesprochen, mischt: „Wir sind das Volk!“ Johannes tritt als Räuberhauptmann Moor auf, umgeben von seiner Bande, die unter Triumphgeschrei den gefolterten und geschundenen Kameraden auf den Schultern hereinschleppt. Alle Hände recken sich nach ihm, jeder will ihn anfassen und umarmen; sie betten seinen Kopf auf die Röcke, die sie sich vom Leib gerissen haben, flößen ihm Branntwein ein, nach dem er mit ausgedörrten Lippen verlangt.
Richlind kauert atemlos da und verfolgt jedes Detail dieses turbulenten Bildes, wobei sie – die Ellenbogen auf die Knie gestützt – die Finger in ihre Wangen verkrampft hält.
Welch harte Arbeit musste dem vorausgegangen sein, sinniert sie; aufpeitschen hat er sie nicht müssen, diese Jungs, das haben die Verhältnisse in der Republik ausreichend besorgt.
Im nächsten Augenblick stürmen sie mit Fragen auf den Befreiten ein; als er sich halb emporrichtet, verstummen sie und hängen vorgebeugt in äußerster Anspannung an seinen Lippen, und Roller – totenblass und schockiert von dem gerade Erlebten – beginnt, mit heiserer Stimme stoßweise hervorzubringen: „Recta komme ich vom Galgen her...“
Wie macht er das, der Gustav Patzke? fragt sich Richlind, ist ja nicht wiederzuerkennen!
„...ich war auch nur drei Schritte von der Sackermentsleiter, auf der ich sollte steigen in Ibrahims Schoß – so nah, so nah!“
Und die Art, wie er alsdann mit starren, in die Ferne gerichteten Augen gleich einer Vision alle Schrecknisse der letzten Minuten vor dem gewaltsamen Ende der Henkershand flüsternd schildert, lässt Richlind erneut ergriffen den Atem anhalten; das nimmt man ihm ab, das ist ganz glaubwürdig, denkt sie, und für die Dauer des ablaufenden Bildes vergisst sie, dass hier blutige Anfänger am Werk sind. Und sie richtet ihren Blick auf Erdmann Jansen, der vor der Rampe auf seinem Regiestuhl sitzt, und ihr ist danach, als müsste sie sogleich zu ihm hin stürzen, um ihm ins Ohr zu wispern: „Du wandelst uns alle um und um, formst und wendest uns, machst uns transparent, so dass jeder in uns hineinzuschauen vermag; und weißt doch nichts, rein gar nichts, und bist völlig ahnungslos da, wo´s so drauf ankäme!“
Gustav Patzke hatte sich diese seine große Szene immer wieder von seiner Schwester abhören lassen. Nachts durchlebte er im Traum noch einmal das Bild in allen Schrecknissen der Gefangenschaft; oft schrie er im Schlaf auf, so dass Mutter und Schwester aus ihren Kissen hochfuhren.
Und als er gar einmal „Feurijo! Feurijo!“ schrie, sprang die Mama zu Tode erschrocken aus dem Bett und rief: „Jesses, mein Gott, Wicki, Wicki, es brennt!“ Worauf Kerstin, aus tiefstem Schlaf gerissen und zuerst selbst starr vor Schreck, ins elterliche Schlafzimmer gestürzt kam und, nachdem sie sich umgeschaut hatte, erleichtert aufatmend die Mutter zur Besinnung brachte: „Bleib ganz ruhig, Mamma! Das ist nur der Täve; der träumt halt von seiner Rolle als Roller !“
Ehe man das Wagnis unternehmen wollte, Geneviève zur Eröffnung des neuen erotisch-magisch-esoterischen Zirkels in die Datsche am See der Genossin Denikin mitzunehmen, wurden Frau La Bruyère einige Mahlzeiten lang vorher winzige Mengen Kantharidinpulver, von dem schon eine geringfügige Überdosis schwere Vergiftungen, ja unter Umständen sogar den Tod zeitigen konnte, zusätzlich zu dem ins Essen gemischte Kokain verabreicht.
„Ich hab´s jetzt wirklich satt!“ hatte die Genossin Wagner-Gewecke noch zu Poniatowski gesagt, und ihre schmalen Lippen umspielte ein deutlicher Zug ihrer latenten Brutalität, die sie sonst so geschickt hinter ihrer gleichmäßig liebenswürdigen Larve zu verschleiern wusste. „Und Carmen braucht davon nicht
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