Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
und mit Hochzeitskutsche in die Kirche gefahren. Es hat einen Massenauflauf gegeben, dass der Pöbel dachte, es wäre Montag und die Leipziger kämen...“
„Wie heißt sie denn?“ wollte Carmen ungerührt wissen; ihre Stimme war ein wenig belegt und ließ es im Vergleich zu den anderen angesprochenen Damen an jeglichem Interesse fehlen.
„La Bruyère“, erwiderte die Genossin lakonisch. „Seitdem ihr Ehekrüppel seine Position im Importkombinat für Südfrüchte gegen den Etappendienst jenseits der südlichen Grenze der Republik an der Donau vertauschen musste, spielt Genoveva, wie sich das Ding ausgerechnet nennt, die Nonne und hat sich in ihre Hochhauswohnung am Leipziger Platz verkrochen. Und wenn das Engelchen noch so unschuldig dreinschaut, möchte ich doch wetten, dass das Aas es faustdick hinter den Ohren hat!“
In Wahrheit war die Äußerung der Genossin eine schamlose Lüge, die ein billig denkender Mensch aus ihrem plötzlich ärgerlichen, ja gehässigen Ton herausgehört hätte und die gewiss auf tiefere Gründe zurückgeführt werden könnte, denn das bisherige Leben von Geneviève, wie ihr Taufname präzise lautete, strafte die Genossin Wagner-Gewecke Lügen.
Ihren allegorischen Vornamen verdankte Frau La Bruyère ihrem Vater, einem Herrn Schulze; der hatte eine kleine Gärtnerei in nichtgenossenschaftlichem Besitz gehabt und vor dem Krieg der Nazis Theologie studiert und war sprachlich gebildet sowie zudem poetisch veranlagt gewesen. Als das neugeborene Töchterchen mit ihren spinnwebfeinen Härchen und blitzblauen Kulleraugen neben seiner Frau lag, hatte er es Geneviève benamt.
Leider war es dem früh an einem Krebsleiden Verstorbenen nicht vergönnt gewesen, die Tochter heranwachsen zu sehen. Er war religiös gewesen und außerdem als alter Sozialdemokrat von strengem Willen, den ihm seine Witwe über seinen Tod hinaus erfüllte, so gut sie konnte. So unterschied sich Genevièves Jugend beträchtlich von der hunderttausend anderer in orthodox-kommunistischen Verhältnissen und Vorurteilen aufgewachsener junger Mädchen. Dafür war ihr Weltbild anders eingeengt. Die Oberschule war ihr verschlossen, und einen praktischen Beruf erlernte sie nie. Das Mädchen aus einfachem, christlichem Haus bekam von der Mutter kochen, nähen, stopfen, waschen und bügeln, kurz: die Hauswirtschaft, beigebracht, auch etwas gärtnern, um nach dem Testament des Vaters eine gute Hausfrau und Mutter zu werden. Basta, hatte die Frau Mutter gesagt, wie es auch ihr verfrüht Hingeschiedener gesagt haben würde.
Wo aber blieb der junge Mann, aus anständigem Hause, der sie in Ehren, mit Kirchensegen und allem Drum und Dran zum Weib genommen und zur Mutter gemacht hätte? Er blieb – weg. Geneviève war sich stets vorgekommen, als trüge sie eine Tarnkappe, so unsichtbar blieb sie. Kaum, dass sie außer Haus ging, und wenn, dann nur über Tag, wenn die jungen Männer – die noch nicht rübergemacht hatten oder rübergekauft worden waren – in den Volkseigenen Betrieben oder sonst wo arbeiteten. Gewöhnlich wurde sie auch noch von ihrer Mutter begleitet; was die jungen Männer aller Länder überhaupt nicht leiden mochten. Außer in der Kirche zeigte sie sich nirgends, nicht mal bei verwandten Familien, sondern vergrub sich lieber, nachdem sie den Haushalt gemeistert hatte, in ihren Lesewinkel, um Frauenliteratur zu lesen wie Alle Herrlichkeit auf Erden von Han Suyin und immer wieder ihr Lieblingsbuch Jauche und Levkojen von Christine Brückner oder einen so entzückenden Roman wie Elisabeth Alexanders Törichte Jungfrau , welche Bücher sie allesamt links und rechts der Transiteisenbahnstrecke nach West-Berlin gefunden hatte. Darüber verstrich allmählich die Zeit, so dass es ihre Mutter schließlich doch mit der Angst zu tun bekam, das Töchterchen möchte am Ende als Jungfer versauern. Eine entfernte Verwandte aus Westdeutschland hatte ihr den telefonischen Rat gegeben, das Mädchen solle sich einfach mehr allein in der Stadt oder draußen in den Parks zeigen „und so“, sonst könne doch keiner anbeißen. „Ihr in der Zone stellt euch aber auch zu einfältig an“, hatte die Base hinzugefügt.
Daraufhin hatte die treusorgende Mutter Geneviève förmlich aus dem Haus gejagt, sie zu endlosen Spaziergängen animiert, sie sogar allein ins Filmtheater gehen lassen... Nichts hatte geholfen. Eines Tages aber – es erschien zwar weder der erträumte Märchenprinz noch ein schneidiger Uniformträger mit
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