Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
Pensionsberechtigung und auch kein junger Film- oder Schlagerstar – kam es, wenn auch ganz anders, so doch fast wie im Märchen und kaum zu glauben, zu einer wirklichen Begebenheit, die aber nur die Vorgeschichte darstellte zu dem Eigentlichen, das sich innerhalb weniger Wochen zutrug und zu einem ganz tragischen Ausgang führen sollte...
Es war an einem heißen Tag im vergangenen Juli, kurz vor Mittag, als kein Wölkchen den Azur trübte, sogar eine Nachtigall im gleißenden Sonnenlicht auf dem Ast des Baumes tirilierte, unter dem Geneviève auf einer Bank saß und sich wieder einmal in einen Roman vertieft hatte. Hier Unter den Linden herrschte noch wenig Verkehr, er war ruhig und menschenleer. Es war so friedlich, dass sich die Menschen nur schwerlich vorstellen konnten, wie jemals hatte eine Mine vor dem Stacheldraht explodieren oder sich ein Schuss an den befestigten Grenzwällen der Republik hatte lösen können, ganz zu schweigen von jenen längst vergangenen Zeiten, da die Menschen in Gas erstickten, unter Kolbenschlägen oder Bombardierung verreckten oder in Drahtverhauen hingen, bis der Tod sie endlich erlöste.
Geneviève vermochte das am allerwenigsten. Ihr bereitete nur eine junge Ärztin Kummer, die auf dem Platz des himmlischen Friedens , zwischen Fluchtgedanken, traditionellem chinesischem Familiensinn und revolutionärer Aufbruchstimmung hin- und hergerissen, sich endlich nicht für den Liebhaber, sondern für das seinen neuen Weg suchende Land entschied. So entging Geneviève der reale friedenstörende junge Verkehrsrowdy, der seine Wut über die Verhältnisse im Staat am Gaspedal seines aufgemotzten, stinkenden Trabis auszulassen schien, genauso wie der lautlos vorüber gleitende Rollstuhl, in dem eine Behinderte geschoben wurde. Sie blickte lediglich auf, wenn eine Militärperson vorbeitrabte, uniformbewusst und dabei doch mit der den preußischen Soldaten eigenen Nonchalance, und wenn es sich um einen Portepéeträger handelte, sah sie ihm lange nach, um seufzend wieder das Botticelliköpfchen zu senken auf den Roman, den sie nun schon bald auswendig hersagen konnte.
Als sich aber ein Kraftrad näherte und der Motorlärm nicht abebbte, sondern jäh verstummte, schaute sie auf – warum, wusste sie hernach nicht zu sagen – und sah auf dem haltenden Feuerstuhl einen angejahrten, lederhäutigen Herrn, unter dessen Helm helle Locken hervorquollen. Er nahm die Kopfbedeckung ab, schüttelte seine Mähne, wobei er die junge Dame bemerkte. Fräulein Schulze musste lächeln, was den Alten so verdutzte, dass er seinen Helm fallen ließ, der Geneviève vor die Füße rollte. Der Herr sprang elastisch von seiner Maschine, um seine Behelmung aufzunehmen. Doch das Mädchen – gut erzogen, wie sie war – kam ihm zuvor. Leicht errötend reichte sie ihm die Motorradhaube und machte unwillkürlich dabei sogar einen Knicks. Was er reizend fand und ihn veranlasste, sich vorzustellen.
„La Bruyère“, sagte er forsch und dienernd.
„Geneviève“, gab sie schlicht und sanft zurück.
„Wie reizend“, komplimentierte er ehrlich und fand das Mädchen noch entzückender, so ansprechend, dass er – ein Kavalier alter Schule – wenig später bei der Mutter um Genevièves Hand anhielt. Der Altersunterschied machte ihm offenkundig nicht das Geringste aus, was sich von ihr nicht so ohne Weiteres behaupten ließ. Und so wäre es beinahe zu einer Marienbader Elegie oder doch einer Ulrike-von- Levetzow - Affäre – wie weiland bei Herrn Geheimrat Goethe – gekommen, wenn nicht die herzensgute Mutter dem Töchterchen den Kopf zurechtgesetzt und die trivialen Flausen ausgetrieben hätte.
„Sieh mal, Genovevalein“, sagte sie, weil sie das Französische nicht aussprechen konnte, was die Tochter jedoch auf den Tod nicht leiden mochte, „jetzt wird es aber höchste Zeit für dich, bald wirst du dreißig, und junge, unverheiratete Männer gibt es kaum noch in Berlin, alle haben sie rübergemacht. Hier geblieben sind die Knaben und die älteren Semester halt. Aber was stören dich die weißen Haare? Denk einmal an, du erhältst einen feinen Namen: la brü jär. Jessesmariaundjosef! Stell dir vor, wie die Nachbarn neidisch schauen!“
Nachdem die Mutter das sieben mal siebzig Mal wiederholt hatte, willigte Geneviève – ergeben und mit Herzklopfen – ein; immerhin war der alte Herr ihr durchaus nicht unsympathisch. Nach der Zeremonie fand die Trauung in der Gethsemanekirche in kleinem Kreis statt.
Weitere Kostenlose Bücher