Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
was konnte eine schwache Frau wie sie schon dagegen machen?
Michaela verschmähte das Denken, gab lieber jeder kleinsten inneren Regung den Vorrang. Und wenn sie grübelte, wurde sie außerdem meistens zu müde, um so ungeheuer komplizierte Gedanken weiterverfolgen zu können. Ich werde mir später den Kopf darüber zerbrechen, nahm sie sich vage vor; und schon halb im Einschlafen murmelte sie vor sich hin: „Nur, dass er schon über vierzig Lenze zählt, das sieht man ihm gewiss nicht an...“
Auch in der Wohnung der Familie Patzke lag noch jemand wach. Keinen Schlaf findend, dachte auch er an den Warschauer, doch mit ganz entgegengesetzten Empfindungen.
„Dieser blonde Mephistopheles!“ zischte Gustav zähneknirschend vor sich hin. „Und so was wohnt jetzt Wand an Wand mit ihr! So ein Knilch! Groß ist er und stark und elegant. Lässt sich chauffieren! Natürlich lässt sie es zu, dass er ihre Hand festhält! Bedeutet das nicht schon ein halbes Versprechen? Mich selbst hält sie dagegen nur für einen dummen Jungen mit kurzen Hosen!“
Doch was wusste der unerfahrene Halbwüchsige denn schon davon, wie das war, dieses große Geheimnisvolle, das die Erwachsenen miteinander trieben. Er wusste gerade so viel, dass er sich bisweilen plötzlich sehr stark fühlte und einfach hätte zugreifen wollen, wenn er ein weibliches Wesen ansah wie sie.
Er verspürte bei reiferen jungen Frauen über Zwanzig, die für ihn außerhalb erreichbarer Grenzen waren, verzweifelt einen genauso unbestimmten wie unstillbaren Liebesdrang, glühte in einer brutalen und unbegreiflichen Hitze, die ihn erschrocken machte wie das unvermittelte Trommeln seines Herzens, die sämig-klebrige Flüssigkeit auf seinem Bettlaken, seine wild-bewegten Träume, die Überraschungen, die ihm Körper und Innenleben bereiteten. Ein unbedeutender Anreiz genügte, dass sich seine Lust jäh entlud, ihn konfus und halb von Sinnen, ja ohnmächtig zurücklassend. Die flüchtige Berührung einer Frau auf der Straße, der Anblick eines Frauenschenkels, eine Filmszene, ein Satz in einem Buch, selbst der rüttelnde Sitz in der Trambahn – alles erregte ihn maßlos. Immer wieder fiel er in plötzliche leidenschaftliche Schwärmerei für unerreichbare ältere Mädchen, an die er sich nicht herantraute, weshalb er sich damit begnügte, sie aus der Ferne anzubeten – verwundert über sein unverständliches Verlangen, sich in einen Sumpf der Begierde zu stürzen, sich in der Sünde zu verlieren, Wonne und Enttäuschung zu erleiden, die ihm immer allzu kurz schienen. Doch nichts und niemand war in Sicht, ihn wirklich von den weißglühenden Martern der unfreiwilligen Keuschheit zu erlösen.
Der junge Mensch stöhnte auf, drehte sich gegen die Wand, um sich hernach noch wohl ein Dutzend Mal schlaflos von einer auf die andere Seite zu werfen. Bis er endlich auf dem Bauch liegen blieb und von Michaela zu träumen begann. „Du bist süß und jung“, hörte Gustav Michaela sagen, „das finde ich recht unterhaltsam, doch mehr kann ich dem nicht abgewinnen.“ – „Aber Ela!“ rief er hochschreckend. Ein hitziges Gefühl der Leidenschaft hatte ihn jäh geweckt; er empfand etwas Befreiendes daran, was ihn schließlich doch einschlafen ließ, traumlos jetzt und ruhig atmend bis zum frühen Morgenrot.
„Das war in der Tat eine glänzende Idee von Ihnen, mein lieber Poniatowski, dass Sie das Zimmer bei dieser kleinen Waschfrau in Rahnsdorf anmieten konnten. Als Reklamebüro sozusagen für unseren Zirkel. Und inkognito noch dazu? Wie raffiniert! Ideen haben Sie, das muss Ihnen der Neid lassen.“
Der Warschauer nahm die Anrede und das zweifelhafte Kompliment der Genossin mit eingefrorenem Lächeln und kaum merklichem Vorneigen seines Kopfes entgegen, wusste er doch, dass man ihre Worte nicht auf die Goldwaage legen durfte. Sicher hatte sie der Wohnraumlenkung wie auch der Meldebehörde schon längst über ein Mitglied mit Märchenauge im Zirkel einen Wink gegeben. Er konnte dieses Weib mit ihrem maskulinen Gebaren und ihrem Klassendünkel, der sie wie eine Mauer umgab, auf den Tod nicht ausstehen, so damenhaft sie sich auch zu geben wusste. Dabei wurde sie hinter ihrem Rücken nur „der Alte Fritz“ genannt.
Die Abneigung beruhte allerdings auf Gegenseitigkeit: Wer war er schon für sie - einer Cousine zweiten Grades seiner verstorbenen Exzellenz, des Ex-Botschafters in Rumänien -, dieser aus Warschau wegen Devisenschmuggels entflohene Herbergsvater, der sich
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