Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
großer Mann ausgestiegen war, der gleich seine Pfeife anzündete und Tabakwölkchen in den Himmel blies. Als Janine aus dem Haus auf die Gasse trat, scholl ihr eine kräftige Bassstimme entgegen: „Na, was ist denn das, wo bleibst du denn. Ich warte schon seit geraumer Zeit auf dich!“ Was er rief, klang ernst gemeint, aber seine Körperhaltung ließ eine andere Sprache erkennen. Seine Riesengestalt stand im Vorgarten nahe einer Gartenzwerggruppe – die Arme einladend ausgebreitet wie die Christusfigur auf dem Zuckerhut in Rio de Janeiro. Janine schluchzte auf und warf sich in die Arme ihres Mannes.
Das Ehepaar küsste sich gegenseitig unter Tränen ab, bis der große Willi der Begrüßungszeremonie ein Ende setzte mit den Worten: „Gehen wir doch erst mal rein. Ich habe mich noch mit jemand verabredet.“ Er blickte nach rechts und links, konnte jedoch kein auffälliges Fahrzeug, das nichts in der Straße zu suchen hatte, entdecken. Kurz darauf standen sie in ihrer rustikal-gemütlich eingerichteten Wohnküche, deren Möbel mit Bauernmalerei verziert waren. Auch die Eckbank und die drei Stühle mit herzförmig ausgeschnittenen Rückenlehnen trugen handgemalte Blumensträuße in der Grundfarbe Blau und standen um einen derben Tisch mit einer naturbelassenen Kiefernholzplatte. Auf allen Plätzen lagen vormals karierte, mittlerweile schon arg verwaschene Sitzkissen, die Janine während ihrer letzten Schwangerschaft genäht hatte. Der Heimkehrer sah seine Frau fragend mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Alles sauber“, antwortete Janine beruhigend, „dein talentierter Sohn hat sich als Kammerjäger betätigt – ohne Jagderfolg glücklicherweise. Offensichtlich sind keine neue Wanzen mehr eingereist.“
Es klingelte, und der erwartete Besuch eilte herein, der werktätige Glasschleifer Ludolf Friesel, der es auf der Lunge hatte und mit Frau und fünf Kindern wenige Minuten entfernt im Fußweg 49 c wohnte, in einer sonnenarmen Mansardenwohnung eines Altbaus aus der Wilhelminischen Epoche der Hauptstadt.
„Ich hab gedacht, ihr wartet unten auf mich“, sächselte er leicht. „Meine Frau muss noch die Kinder versorgen; sie kommt dann nach.“
Das Fenster war weit geöffnet, um den Tabaksqualm vollends abziehen zu lassen. Ludolf Friesel konnte ihn wegen seines Lungenleidens nicht vertragen, weshalb der alte Willi in Anwesenheit des Freundes die Pfeife kalt zwischen den Zähnen hielt. Diese gelegentlichen Zusammenkünfte fanden in der Frühschichtwoche statt, wenn sie alle abends frei hatten.
Auch als Frau Friesel erschien, mit den Handknöcheln auf den Tisch klopfte und die Anwesenden mit einem burschikosen „Hallo, allerseits!“ begrüßte, wollte an diesem Abend das Gespräch nicht recht in Gang kommen, da sie alle, abgesehen von den verheerenden Allgemeinzuständen, noch zu sehr unter dem Eindruck des tragischen Unglücksfalles standen.
Dabei durfte in der betreffenden Halle von Rechts wegen gar nicht gearbeitet werden, so baufällig wie die war. Aber schließlich mussten sie einen Plan erfüllen. Deshalb hatte der junge Wegmann auch den Fehler des Gabelstaplerfahrers, der ein Rohr abgerissen hatte, wiedergutmachen wollen, indem er, ohne den entsprechenden Befähigungsnachweis zu besitzen, für sein Aktiv in der Pause zu schweißen begann. Das war der Auslöser für die Explosion gewesen, die bisher noch nicht geklärt werden konnte.
Wilhelm senior, der große Willi und Vater des kleinen, war seit fast zwei Jahrzehnten freiberuflich tätig als Ingenieur und Patentinhaber der elektronischen Datenverarbeitung, zurzeit gerade für das Berliner VEB Transformatoren- und Röntgenwerk. Der gelernte Elektromechaniker Widulle war dreizehn Jahre älter als seine Frau Janine und schon ihr Jugendfreund gewesen, bevor die beiden 1973 heirateten. Der kleine Willi wurde 1974 an dem Tag in Berlin, der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik geboren, als Jürgen Sparwasser das Siegtor gegen die westdeutsche Nationalmannschaft geschossen hatte, entgegen der BLÖD-Zeitungs-Schlagzeile drüben, die voraussagte, „Warum wir heute siegen“. Der große Willi war Mitte Fünfzig und der Typ, der sich zwischen dem vierzigsten und sechzigsten Lebensjahr nicht sonderlich verändert. Seine tiefeingekerbten Stirnfalten zum Beispiel hatte er sogar schon als Endzwanziger besessen, als er Anfang der Sechziger von Rostock in den Berliner Raum überwechselte. Seine zerfurchte Stirn passte gut zu dem breiten Gesicht mit der
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