Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
an uns selbst!“ prustete er, weil er sich leicht verschluckt hatte.
Janine klopfte ihm auf den Rücken. „Die Tschienie hat vollkommen recht“, fuhr er fort, „so kann es doch nicht weitergehen! Warum haben wir es nicht schon längst so gemacht wie der Gorbatschow oder der Jelzin gar? Warum herrscht bei uns immer noch ein latenter Stalinismus, warum?“
Diesmal unterbrach ein plötzlicher Hustenanfall seinen Redeschwall. Sein vom Werktätigsein angegriffener Körper vertrug nicht mal mehr dieses geistige Feuer, das in ihm brannte und ihn zu verzehren drohte. Die anderen warfen einander vielsagende Blicke zu und wurden doch unwillkürlich von seinem leidenschaftlichen Pathos ergriffen. Nur das Naturell des großen Willi widerstand dem ansteckenden Eifer Friesels; er griff nach dessen Handgelenk und hielt es fest umschlossen, bis sich der Anfall langsam legte und Ludolf – keuchend und atemringend – schon fortfahren wollte.
„Ludolfus!“ mahnte der große Willi, sich vorbeugend, um die Eindringlichkeit seiner Worte zu erhöhen. „Es ist doch ganz zwecklos, wenn du dich immer so zerfleischst, dich noch kaputter machst, als du schon bist. Du lässt dich von den Reformisten und deren eiferndem Erneuerertum allzu sehr verhetzen...“
Friesel machte den Mund rund, um gleich heftig zu entgegnen, aber der große Willi kam ihm zuvor: „Ich bitte dich! Wir wollen doch immer erst den anderen ausreden lassen, nicht wahr? So haben wir das jedenfalls bisher immer gehalten, oder wie?“ Ludolf Friesel biss sich auf die Lippen und lehnte sich achselzuckend zurück; die Andeutung eines Kopfnickens aber bedeutete: Ist ja schon gut.
„Nichts gegen Boris oder gar den Michail oder gegen die ganze aufkommenden Bewegung; von ihrem Standpunkt aus kann man verstehen, dass sie lieber heute als morgen ihre Erkenntnisse weitergeben und auch bei uns eine freiheitliche Wende herbeiführen wollen.“
„Von der Sowjetunion lernen, will gelernt sein“, warf Janine trocken ein.
„Hervorragend, beste Genossin“, bellte Ludolf, „diesen Standpunkt vertritt auch die Führung in Staat und Partei.“
„Wir kennen die beiden, den Jelzin wie den Gorbi“, fuhr er ungerührt fort, „aber ich kenne auch die wirtschaftliche Lage in ihrem Riesenreich. Wem haben wir es denn zu verdanken, dass unsere Republik als sozialistisches Musterland gilt, he? Wer kommt denn jahraus, jahrein nach Leipzig auf die Messe gepilgert nach Waren aus dem Land von Druck, Dampf und Revieren? Hans und Franz aus Ost und West etwa? Oder sind es nicht vielmehr die hohen und betuchten Tiere, die was zu melden haben und sich zu den Messeständen drängeln, um an Erich ranzukommen und die uns unsere Spitzenstellung im sozialistischen Lager erst ermöglicht haben? Hat man uns nicht das Prädikat de luxe verliehen? Haben wir uns nicht in die Reihe führender Industriestaaten emporgearbeitet? Und hat der Erich etwa keinen Anteil daran, he? Das bejaht mir!“ Aufatmend hielt er inne und lehnte sich zurück; an seiner kalten Pfeife ziehend, blickte er alle der Reihe nach an, als wollte er sagen: Nun, euch hab ich mal wieder gründlich aufgemischt!
Aber diese etwas zu bewusste Pause reizte Ludolf Friesel natürlich zum Widerspruch. Ohnedies als Kampfhahn verschrien, was zumindest seine politische Einstellung betraf, geriet er auch jetzt noch mehr in Wallung und beugte sich vor, wirkte wie der verunglückte Ausfallversuch eines Boxers, und hob den Zeigefinger. „Nein, lieber Willem, tu du bloß mit deinem muffligen Erich nicht so dicke! Kein Mensch wird leugnen, was er früher alles geleistet hat. Auch das mit der Leistungsbilanz ist relativ – ich betone: relativ – in Ordnung. Ich habe die Neubaugebiete auf ehemaligem Ödland nie für verachtenswerte Plattenbauten gehalten, sondern für die damals bestmögliche Befriedigung des großen Hungers nach Wohnraum. Und die vielen Medaillen erst wird dem Genossen Erich niemand streitig machen; ein großer Haufen Gold und Silber! Aber können wir das Edelmetall fressen? Und was haben unsre Superathleten zuvor nicht alles schlucken müssen! Nicht nur politisch. Was in den letzten Jahren gelaufen ist, wissen wir ja alle, die wir hier solidarisch beisammensitzen; und das nicht zu knapp! Und ich weiß sehr wohl, worauf du wieder mal hinaus willst: ja keine sowjetischen Einflüsse! Auf einmal! Es könnte ja sein, dass die Genossen aufhorchen und rübermachen in eine andere, neue Parteiorganisation – außerhalb des
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