Letzter Gipfel: Ein Altaussee-Krimi (German Edition)
dass …“ Die Frau Märzendorfer legte sich die linke Hand über die Augen und schluchzte auf. „Es wird nicht mehr lange dauern“, versuchte die Frau Doktor sie zu trösten, „dann können Sie sich hier in Ihrer Heimat von ihr verabschieden.“ Hoffentlich, so dachte Gasperlmaier bei sich, würde die Frau Märzendorfer ihre Sandra nie so zu Gesicht bekommen, wie die Bergrettung sie aufgefunden hatte. Gasperlmaier erinnerte sich mit Schrecken daran, wie es ihm selbst ergangen war, als die Bergretter die Plane zur Seite geschlagen hatten, die das bedeckt hatten, was von der Sandra übrig geblieben war. Seltsam, dachte Gasperlmaier, jetzt hatte der Schädel plötzlich einen Namen. Sandra. Das Bild, das er im Kopf hatte, passte nicht dazu.
„Frau Märzendorfer, haben Sie vielleicht Fotos von der Sandra?“ Die Frau nickte, stand auf und verschwand durch eine Tür. Als sie wiederkam, hielt sie ein schweres, großformatiges Album in den Händen. Nachdem sie es aufgeschlagen hatte, sah Gasperlmaier schon ein wenig vergilbte Fotos eines Volksschulkindes. Die Frau Märzendorfer begann zu lächeln. „Das ist sie bei einem Ausflug an den Offensee. Sie war so ein liebes Kind!“ Gasperlmaier folgte dem Finger der Frau Märzendorfer, der auf ein Mädchen in einem rosa gestreiften Leibchen und einem hellblauen Rock zeigte, das etwas unsicher in die Kamera lächelte. Die rechte Hand des Mädchens umklammerte eine Barbie-Puppe an der Taille. Die Farben der Puppenkleider, so stellte Gasperlmaier fest, waren denen von Sandras Kleidung nicht unähnlich. Gasperlmaier warf der Frau Doktor einen Blick zu, die fast unmerklich die Augen rollte und unauffällig mit den Schultern zuckte, als die Frau Märzendorfer umblätterte. Das, fand Gasperlmaier auch, war natürlich nicht das, was sie sich von der Frau Märzendorfer erhofft hatten, es war mehr um Fotos gegangen, die die Sandra Märzendorfer kurz vor ihrem Verschwinden zeigten, denn die hätten ihnen eher weiterhelfen können. „Und da waren wir auf der Bräuwiese baden!“ Auf dem Foto sah man die kleine Sandra in einem hellgrünen Bikini mit dunkelblauem Blumenmuster. In der einen Hand hielt sie einen kleinen Kübel, in der anderen eine Schaufel. Neben ihr stand ein etwa gleichaltriger Bub in einer blauen Badehose. Einer richtigen Badehose, wie Gasperlmaier feststellte, nicht so einer Flatterhose, wie sie heute Mode waren, die über die Knie reichten und den Inhalt ganzer Schwimmbäder aufsaugen konnten. Auch der Bub war mit Sandspielzeug ausgerüstet. Die Sandra trug zudem einen gelben Strohhut. „Ist das ihr Bruder?“ „Nein“, schüttelte die Frau Märzendorfer traurig den Kopf. „Das ist nur ein Nachbarskind. Wir haben öfter andere Kinder mitgenommen, damit der Sandra nicht so fad war. Sie hat ja keine Geschwister. Wir hätten schon gern mehr Kinder gehabt, aber …“ Wieder hielt sich die Frau Märzendorfer die Hand vors Gesicht und begann zu schluchzen. Gasperlmaier hörte, wie jemand die Tür öffnete. „Minerl!“, rief jemand von der Tür her. „Hast schon wieder nicht zugesperrt? Wie oft soll ich dir noch …“ Der Mann, der das Wohnzimmer betrat, hielt inne, als er Gasperlmaier und die Frau Doktor erblickte. Die stand gleich auf. „Kohlross, vom Bezirkspolizeikommando in Liezen. Wir haben gestern schon telefoniert.“ Der Herr Märzendorfer war etwa so groß wie er selbst, stellte Gasperlmaier fest, etwas breiter gebaut, durchtrainiert und glatzköpfig, bis auf einen schmalen Ring kurz geschnittener Haare rund um den Schädel. Er sah deutlich jünger und auch fitter aus als seine Frau, fand Gasperlmaier. Wahrscheinlich war es ihm leichter gefallen, das Verschwinden der Tochter zu verkraften. Obwohl ja, wie Gasperlmaier aus eigener Erfahrung wusste, Töchter oft mehr an den Vätern hingen als an der Mutter. Gasperlmaier erhob sich ebenfalls und schüttelte dem Herrn Märzendorfer die Hand, der die seine kräftig drückte.
„Meine Frau hat sich ja von dem Schock nie mehr ganz erholt. Sie sehen ja, wie sie beieinander ist.“ Fast hatte Gasperlmaier den Eindruck, als wolle der Herr Märzendorfer Geringschätzung seiner Frau gegenüber ausdrücken. Jedenfalls fand er es nicht besonders sensibel, vor der Polizei und in ihrer Gegenwart so über seine Frau zu sprechen. „Die Sandra hat sich ja sehr von uns entfernt gehabt.“ Die Frau Märzendorfer hob den Kopf und sah ihren Mann giftig an. „Von dir vielleicht! Von mir nicht!“, schimpfte sie, den
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