Letzter Gruss - Thriller
interessieren Sie sich für so etwas?«, fragte er und schenkte Wein nach.
Dessie lachte auf.
»Ich bin faul«, sagte sie. »Ich habe meine Doktorarbeit seit meiner Kindheit direkt vor der Nase.«
Jacob hob fragend die Augenbrauen. Er hatte ein unglaublich ausdrucksstarkes Gesicht. Wenn er wütend war, wurde sein Gesicht dunkel vor Zorn, wenn er sich freute, strahlte er wie ein wärmendes Feuer, und wenn er sich wunderte, so wie jetzt, sah er aus wie ein Fragezeichen.
»Ich bin bei meiner Mutter und fünf Onkeln aufgewachsen. Mama hat ihr ganzes Leben für einen Pflegedienst gearbeitet, aber meine Onkel waren allesamt Diebe und Banditen.«
Sie beobachtete ihn verstohlen, um zu sehen, wie er reagierte.
»Pflegedienst?«
»Sie hat Alte und Kranke betreut. Keiner meiner Onkel hat geheiratet, aber sie haben trotzdem einen Stall voller Kinder. Cousins und Cousinen habe ich immer ausreichend gehabt.«
Jacob brach sich ein Stück Brot ab.
»In welcher Stadt sind Sie aufgewachsen?«
Dessie lachte laut. Jacob sah sie verwundert an.
»Was ist?«, fragte er.
»Ich komme von einem Hof mitten im Wald in Ådalen«, sagte sie. »Das ist ein Teil von Norrland, wo noch in den dreißiger Jahren Arbeiter vom Militär erschossen wurden.«
Der Amerikaner sah sie skeptisch an.
»Ich bin sicher, dass sie einen guten Grund dafür hatten.«
Dessie blieb der Büffelmozzarella im Hals stecken.
»Was haben Sie gesagt?«
»Das Militär schießt nicht grundlos Bürger über den Haufen«, erwiderte Jacob und trank einen Schluck aus seinem Glas.
Dessie traute ihren Ohren nicht.
»Verteidigen Sie staatliche Mörder? Sie verbringen Ihr Berufsleben damit, gewöhnliche Menschen zu verhaften, die Leben und Tod in die eigenen Hände nehmen, und finden, dass Kapitän Maesterton Recht hatte?«
Jacob starrte sie an, während er die zähe Ciabatta kaute.
»Okay«, sagte er. »Themenwechsel.«
Dessie legte ihr Besteck hin.
»Finden Sie es in Ordnung, Menschen zu erschießen, weil sie dagegen demonstrieren, dass ihre Löhne gesenkt werden?«
In einer abwehrenden Geste hob Jacob die Hände.
»Shit, ich wusste nicht, dass Sie Kommunistin sind.«
»Und ich wusste nicht, dass Sie Faschist sind«, erwiderte Dessie und griff wieder nach ihrem Besteck.
43
Dessie wusste nicht, was sie von Jacob Kanon halten sollte. Jemanden wie ihn hatte sie noch nie getroffen: verschlossen und gleichzeitig extrem impulsiv. Er bewegte sich ein wenig kantig und unbeholfen. Jetzt schnäuzte er sich geräuschvoll in die Serviette, stopfte sie unter den Teller und blickte sie an.
»Erzählen Sie mir mehr von Ihren Onkeln.«
Dessie schob den Teller mit Cannelloni weg.
»Zwei von ihnen haben sich zu Tode gesoffen«, sagte sie. »Onkel Ruben wurde in der Walpurgisnacht vor drei Jahren am Kirchberg in Piteå totgeschlagen. Er hatte gerade eine Runde im Knast von Luleå hinter sich.«
Sie sagte es, um ihn zu schockieren, aber Jacob schien hauptsächlich amüsiert.
»Haben sie oft gesessen?«
»Meistens nur kurz. In ihrer ganzen miserablen Karriere haben sie nur ein großes Ding gedreht: Sie haben einen Geldtransport überfallen und dabei viel mehr Geld erbeutet, als sie erwartet hatten.«
Der Kellner kam und fragte, ob sie ein Dessert wollten.
Beide verneinten.
»Sind sie für den Überfall eingefahren?«
»Klar«, sagte Dessie und griff nach der Rechnung. »Obwohl Teile der Beute nie gefunden wurden.«
»Ich zahle«, sagte Jacob.
»Vergessen Sie Ihre Machoallüren«, sagte Dessie und zog ihre American-Express-Karte hervor. »Wir sind hier in Schweden. Die Männer bezahlen schon seit den sechziger Jahren nicht mehr für ihre Dates.«
Der Amerikaner verteilte den letzten Rest Wein in ihre Gläser und grinste.
»Das ist also ein Date?«, fragte er, und seine Augen glitzerten.
Dessie sah ihn überrascht an.
»Was? Ein Date? Natürlich nicht.«
»Haben Sie aber gesagt. ›Die Männer bezahlen schon seit den sechziger Jahren nicht mehr für ihre Dates‹.«
Dessie schüttelte sich.
»Das war bildlich gesprochen. Wir haben kein Date. Wir werden niemals ein Date haben. Und jetzt gehen wir.«
Sie traten hinaus in den blauen Abend, der bald zur Nacht werden würde.
»Wo wohnen Sie eigentlich?«, fragte Dessie, als sie hinunter zum Eingang des Polizeipräsidiums in der Polhemsgatan gingen.
»Långholmen«, sagte er. »Eine Jugendherberge, fürchterliche Kaschemme.«
»Früher war das mal ein Gefängnis«, sagte Dessie.
»Danke«, sagte Jacob, »ich
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