Letzter Gruss - Thriller
dünn …
Wieso sollte sie nichts mit ihm anfangen, so wie mit Jacob Kanon?
Langsam drehte sie ihre Haare zusammen, steckte sie mit dem Kugelschreiber am Hinterkopf fest und konzentrierte sich wieder auf die Ansichtskarte, die vor ihr auf dem Tisch lag.
Tivoli. Der Vergnügungspark mitten in Kopenhagen. Abgeschickt, während die Geschwister Rudolph in Stockholm in Untersuchungshaft saßen.
Sie musste den Tatsachen ins Auge sehen.
So gerne sie Jacob geglaubt hätte, aber seine Theorie hielt nicht stand.
Sylvia und Malcolm Rudolph waren nicht schuldig.
Sie hatten weder diese Karte abgeschickt noch den Brief, den Nils inzwischen vermutlich geöffnet hatte.
Hatte sie sich in die Irre führen lassen?
Menschen ließen sich dazu verleiten, alles Mögliche zu glauben. Alles Mögliche war besser als ein Leben ohne Sinn. Deshalb gab es Religionen oder Fanclubs oder Fußballvereine oder Freiwillige, die für die Armeen der Diktatoren folterten.
Als Wissenschaftlerin und Journalistin war das Hinterfragen
immer ihre Richtschnur gewesen: untersuchen, kritisch denken, nichts als gegeben hinnehmen.
Auf einmal brannte die Sehnsucht in ihr wie ein glühendes Eisen.
Ach Jacob, warum bist du nicht hier?
80 »
Sorry«, sagte Nils Thorsen, schüttelte das Wasser von seiner Öljacke und ließ sich ihr gegenüber nieder. »Das hat ewig gedauert.«
Er bestellte sich sofort ein Bier.
»War es ein Polaroidfoto?«, fragte Dessie.
Der Reporter trocknete seine Brillengläser am Pullover ab und legte die Kopie eines unscharfen Fotos vor ihr auf den Tisch.
Die Bild war verwackelt, das Motiv war kaum zu erahnen.
Dessie kniff die Augen zusammen und studierte das Foto.
Es war aus einer sehr tiefen Position aufgenommen. Man ahnte das Fußende eines Bettes, aber was sich oberhalb davon befand, ließ sich unmöglich sagen.
»Weiß man schon, wo es gemacht wurde?«, fragte sie.
»Das ist nur eine Frage der Zeit«, erwiderte Nils. »Es muss ein Hotelzimmer sein. Sehen Sie das Bild im Hintergrund? Etwas dermaßen Hässliches würde sich keiner zu Hause an die Wand hängen.«
»Liegen da … Menschen im Bett?«, fragte Dessie.
Nils Thorsen setzte seine Brille auf. Seine Hände zitterten leicht.
»Keine Ahnung«, sagte er.
Sie hielt sich das Foto dicht vor die Augen. Da war Bettzeug, dort lagen Kleidungsstücke und eine Handtasche und …
Dann erkannte sie plötzlich einen Fuß, und noch einen, und einen dritten.
Instinktiv warf sie das Foto auf den Tisch.
Das waren Menschen, zwei Personen.
Vieles sprach dafür, dass sie nicht mehr lebten.
»Glauben Sie wirklich, das ist die Nachbildung eines Kunstwerks?«, fragte der Däne.
»Unmöglich zu sagen«, murmelte Dessie.
Sie schüttelte das Unbehagen ab und beugte sich über die Zusammenstellung der berühmtesten Kunstwerke Dänemarks.
Die kleine Meerjungfrau im Hafen von Kopenhagen war das bekannteste. Aber da waren auch noch die Werke der Skagen-Maler, des Kubisten Vilhelm Lundström und viele andere mehr.
Sie strich sich die Haare aus der Stirn. Die Mehrzahl der anderen Fotos war sehr leicht mit den verschiedenen Kunstmotiven zu verbinden gewesen.
Dieses hier gehörte nicht dazu.
Los Angeles, USA
81
»He, du Langschläfer, lebst du noch?«
Jacob schlug die Augen auf und hatte nicht die blasseste Ahnung, wo er sich befand.
Eine Zimmerdecke mit einem großen Wasserfleck.
Das Röcheln einer sehr erschöpften Klimaanlage.
Der bittere Duft von frischem Kaffee stieg ihm in die Nase, ein Aroma, das ihn seit fast sechs Monaten nicht mehr geweckt hatte.
»Komm zu dir. Ich hab Neuigkeiten für dich.«
Jacob setzte sich mühsam auf. Lyndon Crebbs’ durchgesessenes Wohnzimmersofa war nur unwesentlich bequemer gewesen als sein Sessel im Flugzeug.
Der FBI-Mann hielt ihm einen Becher mit dampfend heißem Instantkaffee hin.
»Ich habe den Namen des Vormunds, der sich nach dem Tod der Eltern um die Rudolph-Zwillinge gekümmert hat«, sagte er. »Jonathan Blython, ein Cousin der Mutter, ebenfalls aus Santa Barbara.«
Jacob nahm den Becher entgegen, probierte einen Schluck und verbrannte sich prompt die Zunge.
»Hervorragend«, sagte er. »Meinst du, er würde einen informellen Besuch zu schätzen wissen?«
»Wohl kaum«, sagte Lyndon. »Er liegt seit drei Jahren unter der Erde.«
Jetzt war Jacob endgültig wach.
»Ein unerwarteter, gewaltsamer Tod?«
Lyndon nickte.
»Man hat ihm und einer Prostituierten auf einem Parkplatz drüben an der Vista del Mar Street die Kehle
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