Letzter Gruss - Thriller
leer.
»Hier ist es also passiert«, sagte Jacob.
Carlos Rodríguez nickte.
»Und Sie waren in der Nacht hier?«
Er nickte wieder.
»Was haben Sie gesehen?«
Der Mann schluckte.
»Entsetzliche Dinge«, sagte er. »Unglaublich viel Blut. Mister und Missus lagen tot in dem schönen Bett. Sie hatten nichts an, sie müssen geschlafen haben, als es passierte.«
»Haben Sie ihre Verletzungen aus der Nähe gesehen?«
Der Mexikaner fuhr mit dem Zeigefinger wie mit einem Messer über die Kehle.
»Tiefe Wunden«, sagte er. »Fast bis zur Wirbelsäule.«
Er schüttelte sich unwillkürlich. Jacob musterte ihn prüfend.
»Wie kommt es, dass Sie im Schlafzimmer der Herrschaft waren, mitten in der Nacht? War das die Regel?«
Der Mann hob abwehrend die Hände.
» No, no , ich habe bei meiner Familie geschlafen, als die Señorita anrief. Da bin ich schnell hierher gelaufen.«
Jacobs Nackenhaare stellten sich auf.
»Sie waren also gar nicht derjenige, der sie gefunden hat?«
» No, no , nicht ich. Das war die kleine Sylvia.«
MONTAG, 21. JUNI
Kopenhagen, Dänemark
86
Das Muster existierte.
Manchmal schien es Dessie, als könne sie es ganz deutlich erkennen.
Dann war es wieder weg.
Sie saß auf ihrem ungemachten Hotelbett mit allen Fotos und Ansichtskarten um sich herum, mit all den verknitterten Kopien, die Jacob zurückgelassen hatte. Sie hatte sie immer bei sich, obwohl sie sie schon hundertmal betrachtet hatte, vielleicht sogar noch öfter, all die Häuser und Menschen und Details waren längst in ihrem Gedächtnis gespeichert.
Da war die Ansichtskarte aus Amsterdam mit dem langweiligen Haus an der Prinsengracht, in dem Anne Frank während des Krieges versteckt gewesen war und ihr weltberühmtes Tagebuch geschrieben hatte.
Da waren Rom und Madrid: Colosseum und Las Ventas, Gladiatoren- und Stierkämpfe. Arenen für Schauspiele, deren Sinn und Zweck es war zu töten.
Die Karte aus Paris zeigte La Conciergerie, die legendäre letzte Station vor der Guillotine.
Der Platz in Berlin, wo früher der »Führerbunker« Adolf Hitlers gelegen hatte, dem miesesten Künstler aller Zeiten.
Stockholm: der Stortorget, Schauplatz des Stockholmer Blutbads.
Aber bei drei der Ansichtskarten war sie ratlos.
Das Tivoli in Kopenhagen?
Die Arena der Olympischen Sommerspiele 2004 in Athen?
Oder die anonyme Einkaufsstraße in Salzburg?
Was hatten die mit dem Tod zu tun?
Dessie legte die Fotos wieder aufs Bett.
Bildete sie sich das Muster nur ein?
War es vermessen zu glauben, dass sie in den Gedanken dieser kranken Menschen eine Ordnung erkennen konnte?
Sie erhob sich und ging zum Fenster. Der Regen war in einen feinen Sprühnebel übergegangen. Unten auf Kongens Nytorv kämpften sich Autos und Radfahrer durch die trübe Nässe.
Was ging sie das alles eigentlich an?
Jacob hatte sie verlassen. Die Redaktion hatte sich auch schon seit Tagen nicht mehr gemeldet.
Zu Hause vermisste sie keiner.
To be or not to be.
Als könnte man wählen, ob man leben wollte oder nicht.
Konnte man das? Und wenn ja, welche Art von Leben?
Sie wusste, dass sie genau das machen konnte, wonach ihr der Sinn stand – weiterhin in dieser Sache herumgraben oder nach Hause fahren. Sich engagieren oder es sein lassen.
Mal völlig abgesehen von dem, was die Leute von ihr dachten oder hielten, was wollte sie selbst?
Sie drehte sich um und betrachtete das Durcheinander auf ihrem Bett.
Jacob war es nicht gelungen, einen Kontakt mit der österreichischen Journalistin herzustellen. Er hatte nie eine Kopie des Fotos von Salzburg erhalten.
Nachdenklich ging sie zu ihrem Mobiltelefon, drückte es unschlüssig einen Moment an die Brust, dann wählte sie die Nummer der internationalen Telefonauskunft.
Zehn Sekunden später klingelte es in der Zentrale der Salzburger Tageszeitung.
»Verbinden Sie mich bitte mit Charlotta Bruckmoser«, sagte Dessie.
87
Es klickte einige Male in der Leitung, dann war die österreichische Reporterin dran.
Dessie stellte sich vor.
»Entschuldigen Sie, dass ich anrufe und Sie störe«, sagte sie in ihrem Schuldeutsch.
»Ich habe Ihnen nichts zu sagen«, erwiderte die Journalistin, aber sie klang nicht gereizt. Nur abwartend.
»Ich verstehe Sie vollkommen«, sagte Dessie. »Ich weiß, was Sie durchgemacht haben. Die Ansichtskarte und die Fotos in Schweden gingen an mich.«
»Das habe ich gelesen«, sagte Charlotta Bruckmoser.
»Die Sache ist die«, sagte Dessie, und dann erzählte sie. Von den Fotos, die mit
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