Letzter Gruss - Thriller
andere Art von Kontakt.«
Jacob räusperte sich.
»Wollen wir uns vielleicht setzen?«, fragte er und zeigte auf ein paar Bänke direkt vor dem Eingang.
Sie ließen sich im Schatten einiger spärlich belaubter Bäume nieder.
»Wenn ich richtig informiert bin, haben Sie zusammen mit den Geschwistern Rudolph studiert, bis sie von der Uni abgingen?«
»Völlig korrekt«, sagte der Kunsttyp. »Sylvia und Malcolm waren Avantgardisten auf ihrem Gebiet.«
»Welches war …?«
»Lassen Sie es mich mit Sol LeWitt sagen: ›Innerhalb konzeptueller Kunst ist die Idee oder das Konzept der wichtigste Aspekt künstlerischen Schaffens. Die Idee wird zu einer Maschine, die Kunst produziert.‹«
Jacob bemühte sich, ihm zu folgen.
»Ein Ereignis oder eine Reihe von Ereignissen kann also ein Kunstwerk sein?«, fragte er.
»Selbstverständlich. Mac und Sylvia waren beide fest entschlossen, ihre Werke bis an deren äußerste Grenze zu erforschen.«
Jacob erinnerte sich an Dessies Geschichten von der Kunststudentin, die als Examensarbeit eine Psychose vorgetäuscht hatte, und dem Typen, der einen U-Bahnwagen zerstört und das Kunstwerk »Territorial pissing« getauft hatte. Er beschrieb Nicky Everett die Episoden.
»Könnten die Rudolph-Zwillinge auch solche Sachen machen?«
Nicky Everett schob seine Brille an die Nasenwurzel.
» The Rudolphs waren in ihrer Ausdrucksform viel durchdachter. Was Sie da beschreiben, klingt ein wenig oberflächlich.«
Jacob fuhr sich durchs Haar.
»Gut«, sagte er, »dann erklären Sie mir mal, wie zum Teufel so etwas Kunst sein kann.«
Der Doktorand sah ihn an, in seinem Blick lag absolute Gleichgültigkeit.
»Sie meinen, Kunst sollte an die Wand gehängt und auf dem kommerziellen Markt verkauft werden können, nicht wahr?«
Jacob sah ein, dass er so nicht weiterkam, und wechselte das Thema.
»Die Rudolphs haben eine Art Kunstclub gegründet, Society of Limitless Art …«
»Das war irgend so ein Projekt fürs Web, ich glaube, daraus ist nie etwas geworden.«
»Wie war denn überhaupt ihre soziale Situation? Verwandte, Bekannte, Freunde, Beziehungen?«
Nicky Everett machte ein völlig verständnisloses Gesicht, so als wäre allein die Vorstellung, er könnte solche armseligen Kenntnisse besitzen, absolut hirnrissig.
»Wissen Sie, ob sie über den Tod ihres Vormunds traurig waren?«
»Ihres … was? «
Jacob gab auf.
»Okay«, sagte er und stand auf. »Schade, dass die Rudolphs kein Geld hatten, um ihr Studium hier fortzusetzen. Stellen Sie sich mal vor, was für fantastische Kunst sie hätten erschaffen können …«
Er war bereits wieder auf dem Weg zu seinem Wagen.
Nicky Everett war ebenfalls aufgestanden, und zum ersten Mal zeigte sich so etwas wie ein Ausdruck auf seinem Gesicht.
»Kein Geld? Sylvia und Mac waren Ausnahmetalente. Beide hatten ein Stipendium. Die Studiengebühren waren für sie kein Problem.«
Jacob blieb stehen.
»Kein Problem? Wieso haben sie ihr Studium dann abgebrochen?«
Nicky Everett blinzelte einige Male, ein Zeichen dafür, dass er aufgebracht war.
»Sie haben das Werk ›Tabu‹ geschaffen und wurden dafür relegiert. Damals kamen die engstirnigen Grenzen unserer heuchlerischen Gesellschaft und dieses Instituts nur allzu deutlich zum Vorschein.«
Jacob starrte den jungen Mann an.
»Was haben sie gemacht? Warum wurden sie von der Uni verwiesen?«
Nicky Everett schluckte.
»Sie veranstalteten eine Performance, die im Rahmen des Kunstwerks völlig legitim war. Sie haben in einem Schaufenster der Ausstellungshalle miteinander geschlafen.«
89
Jacob blieb noch eine Weile im Auto sitzen, das Navi abgeschaltet, seinen Seesack neben sich auf dem Beifahrersitz.
In ihm wuchs die Gewissheit, dass mit den Rudolph-Zwillingen etwas grundlegend nicht stimmte.
Je mehr er über ihre Vergangenheit herausfand, desto zwielichtiger wurden sie.
Um mit der letzten Information zu beginnen: Was er auf dem Film aus dem Modernen Museum an Signalen wahrgenommen hatte, stimmte. Die Geschwister hatten eine erotische Beziehung. Möglicherweise galten in der Welt der konzeptuellen Kunst andere Präferenzen, aber in Jacobs Realität vögelte man nicht vor Publikum mit Bruder oder Schwester, es sei denn, man hatte eine Schraube locker.
Die lange Spur durchtrennter Kehlen, die sich hinter ihnen herzog, konnte auch kein Zufall sein. Die Frage war nur, was die Henne und was das Ei war.
Hatte Sylvia ihre abgeschlachteten Eltern gefunden und ein lebenslanges Trauma
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