Letzter Gruss - Thriller
unmöglich. Es wurde beispielsweise nie veröffentlicht, was auf den Ansichtskarten steht. Falls es sich um mehrere Mörder handelt, müssten sie sich abgesprochen haben.«
»Ich hab schon Pferde kotzen sehen«, sagte Lyndon Crebbs. »Wann kommst du zurück in die Citrus Avenue, was denkst du?«
Jacob wurde ernst.
»Vorläufig nicht«, sagte er. »Ich hau wieder ab.«
Lyndon Crebbs schwieg, die Stille schien sich ins Endlose auszudehnen. Jacob trat von einem Bein aufs andere, er konnte sich nicht dazu durchringen, die einzig relevante Frage zu stellen: Wie schwer ist deine Krebserkrankung wirklich?
»Nur eine Sache noch«, sagte Jacob. »Kannst du ein paar Fäden ziehen und sehen, ob du etwas über Lucy herauskriegst?«
Der alte Mann seufzte tief.
»Ich dachte schon, du würdest nie fragen.«
»Danke für alles«, sagte Jacob.
»Dann sagen wir adiós amigo «, erwiderte Lyndon Crebbs.
» Hasta la vista «, sagte Jacob. »Bis zum nächsten Mal.«
Aber die Leitung war schon tot.
DIENSTAG, 22. JUNI
Oslo, Norwegen
92
Das Wohnmobil stand auf einem Campingplatz kurz vor der Stadt.
Am Eingang der Anlage war die Polizeiabsperrung aufgehoben worden, aber der Platz, an dem der Wagen stand, war noch mit Flatterband abgeriegelt.
Dessie zog den Reißverschluss ihrer Windjacke bis zum Kinn hoch.
Der Campingplatz war nahezu leer, und das lag nicht nur am Wetter. Das italienische Wohnmobil stand ganz allein in diesem Teil der Anlage, zurückgelassen wie eine alte Blechkiste, deren Nachbarn Hals über Kopf geflohen waren.
Sie ging näher heran.
Die Schwärme toter Insekten lagen immer noch hinter den Fensterscheiben. Wie eine angewehte Düne häuften sie sich auf der Ablage hinter der Windschutzscheibe, gut zwei Handbreit hoch.
Dessie zog sich die Kapuze über den Kopf. Vom Oslofjord direkt unterhalb des Platzes blies ein steifer, messerscharfer Wind.
Die Fliegen waren es auch gewesen, die verraten hatten, dass mit dem italienischen Wohnmobil etwas nicht stimmte.
Die Nachbarn im Zelt nebenan hatten sich über das Summen beschwert, und nach einer Weile auch über den Gestank. Den Besitzer des Campingplatzes, einen Mann namens Olsen, hatte das allerdings nicht gejuckt.
Die Italiener hatten den Platz langfristig gemietet und im Voraus bezahlt, und Olsen war keiner, der Ansprüche stellte. Wenn die Leute gerne Fliegen als Haustiere hielten, na und, was ging ihn das an? Als die Polizei schließlich anrückte, waren die Fenster über und über von schwarzen, krabbelnden Insekten bedeckt.
Der Gerichtsmediziner schätzte, dass die Leichen über einen Monat im Wohnmobil gelegen hatten.
Dessie zog die Kopie des Polaroidfotos aus der Jackentasche, das aufgenommen worden war, ehe die Fliegen ihre Eier gelegt hatten. Der Wind zerrte an dem Papier, sie musste es mit beiden Händen festhalten.
Brief und Ansichtskarte hatten erst gestern Morgen ihren Empfänger erreicht.
Der Reporter, den sich die Mörder diesmal ausgesucht hatten, war am selben Tag in Urlaub gefahren, an dem die Karte abgeschickt worden war. Und niemand hatte sein Postfach geleert.
Als er zurück in seine Zeitungsredaktion kam, fand er sowohl die Ansichtskarte vor, to be or not to be , als auch das Foto, das sie nun vor sich hatte.
Antonio Bonino und Emma Vendola hatten eine Campingreise durch Europa gemacht und waren am Morgen des 17. Mai in Oslo eingetroffen. Sie wollten Norwegens Nationalfeiertag miterleben, das Fest, mit dem die Norweger ihre Unabhängigkeit feierten.
Emma arbeitete als Sekretärin in einer Werbeagentur, Antonio studierte Zahnmedizin. Sie waren seit zwei Jahren verheiratet.
Dessie sah wieder auf das Foto.
Die Hände der Opfer lagen direkt neben ihren Köpfen, mit den Handflächen an den Ohren.
In ihre Münder hatten die Mörder zwei Paar schwarze Socken gestopft, was den Gesichtern einen grotesken Ausdruck von Schmerz und Angst verlieh.
Dieses Kunstwerk hatte sie sofort erkannt.
Edvard Munchs »Der Schrei«, eines aus einer Serie weltberühmter Gemälde, das als Markenzeichen für den Horrorfilm »Scream« verwendet worden war.
Dessie merkte, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten. Sie wusste nicht, ob es am Wind lag oder an ihren Gedanken über die Toten.
Das war also das Auto, auf das sie seit ihrer Hochzeit gespart hatten. Sechs Schlafplätze, damit sie die Kinder, wenn sie denn geboren sein würden, mit in den Urlaub nehmen konnten.
War ihnen noch Zeit geblieben, Angst zu haben?
Hatten sie Schmerzen
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