Letzter Gruss - Thriller
hoch.
»Tun wir das? Ich kann mich nicht erinnern, eine derartige Vereinbarung unterschrieben zu haben.«
Andrea Friedrich knipste irritiert mit ihrem Kugelschreiber.
»Ein Viertel des Erlöses ist in solchen Fällen das übliche Honorar. Wir haben darüber gesprochen, als wir uns das erste Mal trafen. Manche Agenten berechnen deutlich mehr.«
Sylvia nickte.
»Ich weiß, dass fünfundzwanzig Prozent normal sind«, sagte sie, »aber in unserem Fall halte ich fünf Prozent für mehr als angemessen.«
Die Anwältin machte ein Gesicht, als hätte sie sich verhört.
»Wie bitte? 100 000 Dollar? Das ist ja lächerlich!«
Sylvia lächelte.
»Fünf Prozent, mehr nicht.«
Andrea Friedrich erhob sich halb von ihrem Stuhl. Aus dem zartrosa Schimmer auf ihrem Gesicht waren giftigrote Flecken geworden, die ihren ganzen Hals bedeckten.
»Fast eine Million schwedische Kronen für ein paar Tage Arbeit«, sagte Sylvia. »Das nennen Sie lächerlich?«
»Nun ist es ja gängige Praxis …«, begann die Anwältin.
Sylvia lehnte sich über den Tisch und senkte die Stimme zu einem fast lautlosen Flüstern.
»Haben Sie vergessen, wer wir sind?«, hauchte sie, und vor ihr sank Andrea Friedrich zurück in den Stuhl und wurde kalkweiß.
MITTWOCH, 23. JUNI
Stockholm, Schweden
94
Die Urvädersgränd lag einsam und verlassen da und machte ihrem Namen alle Ehre. Schauerböen zerrten und rissen an Laternenmasten und Straßenschildern.
Die Reporter waren nach Hause gegangen. Immerhin etwas.
Dessie bezahlte das Taxi und lief hastig ins Haus. Ihre Schritte hallten durch den leeren Treppenaufgang.
Ihr war, als sei sie eine Ewigkeit fort gewesen.
Die Wohnung empfing sie mit grauem Tageslicht und völliger Stille.
Im Flur zog sie die nassen Sachen aus und warf sie auf den Boden. Sie setzte sich an den Telefontisch und starrte die gegenüberliegende Wand an, plötzlich sogar zu müde, um unter die Dusche zu gehen.
Aus irgendeinem Grund musste sie an ihre Mutter denken.
In den letzten Jahren vor ihrem Tod hatten sie keinen besonders engen Kontakt gehabt, aber in diesem Moment hätte Dessie sie gerne angerufen und ihr berichtet, von dem Geschreibsel der Kollegen, den ekelhaften Morden und von ihrer eigenen Einsamkeit.
Und von Jacob.
Sie hätte ihrer Mutter gerne von dem ungekämmten Ami mit den saphirblauen Augen erzählt. Mama hätte es verstanden. Wenn sie sich mit etwas auskannte, dann waren es aussichtslose Liebesgeschichten...
Im selben Moment klingelte das Telefon neben ihr. Sie erschrak so heftig, dass sie auf ihrem Stuhl hochhüpfte.
»Dessie? Das hat doch kaum geklingelt, sag mal, sitzt du auf dem Telefon?«
Es war Gabriella.
»Könnte man so sagen, ja«, sagte Dessie und stand auf. Sie klemmte das Mobilteil zwischen Schulter und Ohr, griff sich ein Handtuch aus dem Bad und ging ins Wohnzimmer.
»Wie geht’s? Du hast dich neulich so deprimiert angehört, alles okay bei dir?«
Dessie starrte hinaus auf die Hafeneinfahrt.
»War ein bisschen viel in der letzten Zeit«, murmelte sie.
»Aha. Jacob?«
Ohne es zu wollen, brach sie in Tränen aus.
»Entschuldige«, schluchzte sie ins Telefon, »tut mir leid, ich …«
»Dich hat’s ganz schön erwischt, was?«
Gabriella klang weder sauer noch enttäuscht.
Dessie holte tief Luft.
»Sieht ganz danach aus«, sagte sie.
Am anderen Ende blieb es eine Weile still.
»Es kommt oft anders, als man denkt«, sagte Gabriella schließlich so leise, dass es kaum zu verstehen war.
»Ich weiß«, sagte Dessie. »Entschuldige.«
Gabriella lachte auf.
»Ich habe lange daran zu knabbern gehabt«, sagte sie.
»Ich weiß«, wiederholte Dessie.
Wieder wurde es still.
»Gab es was Neues heute?«, fragte sie dann, um das Schweigen zu brechen.
»Die Rudolph-Zwillinge haben bekanntgegeben, dass sie gegen Mittag aus dem Grand Hotel auschecken werden. Keine Sekunde zu früh, wenn du mich fragst.«
Dessie biss sich auf die Lippe.
»Glaubst du wirklich, dass sie unschuldig sind?«, fragte sie.
»Es gibt nichts, was sie mit den Morden in Zusammenhang bringt«, antwortete Gabriella. »Keine Indizien, keine Zeugen, kein Geständnis, keine Mordwaffen …«
»Aber wer hat es dann getan?«, fragte Dessie. »Wer sind diese Postkarten-Killer?«
Bevor Gabriella antworten konnte, klingelte es an der Tür.
Was zum …
Wer konnte das sein? Irgendwelche Reporter, die noch nicht aufgegeben hatten?
Sie hatte keine Sicherheitskette und keinen Türspion.
»Warte mal kurz, es hat
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