Letzter Gruss - Thriller
in seinem Lieblingssessel und sah sich einen Film mit Ingrid Bergman an.
»Opa?«
Der alte Mann drehte sich um und warf ihr einen raschen Blick zu.
»Drag åta dörn för moija« , sagte er.
Dessie machte die Tür hinter sich zu.
»Das ist Jacob, Opa«, sagte sie und ging hinein, Jacobs Hand immer noch in ihrer.
Opa ist überhaupt nicht älter geworden, dachte sie. Vielleicht lag es daran, dass sein Haar weiß gewesen war, so lange sie zurückdenken konnte, und dass sein Gesicht immer schon diesen missmutigen Ausdruck gehabt hatte. Er schien kein bisschen überrascht zu sein, sie plötzlich in seiner guten Stube zu sehen – zum ersten Mal seit der Beerdigung ihrer Mutter. Stattdessen warf er einen misstrauischen Seitenblick auf Jacob.
»Vo jär häjna för ein?«
»Jacob ist in Ordnung«, sagte Dessie, griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Dann setzte sie sich auf den Wohnzimmertisch, direkt vor den alten Mann.
»Opa, ich möchte dich was fragen. Angenommen, die Bullen sind hinter mir her und ich hab kein Geld und will in Finnland untertauchen, wie mache ich das am besten?«
»Vo håva jä djårt?«
»Was spricht er für eine seltsame Sprache?«, fragte Jacob verblüfft.
»Pitemål«, sagte Dessie, »einen fast ausgestorbenen Dialekt seiner Heimatprovinz, der mehr mit dem Norwegischen und Dänischen gemeinsam hat als mit dem Schwedischen. Das ist der Hof meiner Großmutter. Hier in der Gegend versteht ihn keiner, geschweige denn weiter südlich im Land.«
Sie wandte sich wieder an ihren Großvater.
»Nein«, sagte sie, »wir haben nichts angestellt. Ich frage nur so, rein hypothetisch.«
»Sko jä håva nalta å ita?«
»Ja gern, danke«, sagte Dessie. »Kaffee und ein paar belegte Brote, wenn du was da hast.«
Der alte Mann stand auf und schlurfte in die Küche. Dessie nutzte die Gelegenheit, um in die dunkle Diele hinauszugehen und unter die Treppe zu schlüpfen, wo sich das einzige Wasserklosett im Haus befand.
Als sie zurückkam, hatte ihr Großvater ein paar Scheiben Weißbrot geschmiert und Wasser für Pulverkaffee aufgesetzt. Er saß am Küchentisch, hatte die Hände auf der Wachstuchdecke gefaltet und blinzelte sie aus schmalen Augen an.
»Å djööm sä i Finland« , sagte er , »hä gå et .«
Dessie nickte und biss in eine Scheibe mit Sirup und Port-Salut-Käse.
Dann übersetzte sie simultan, damit Jacob verstehen konnte, was gesprochen wurde.
Sich in Finnland zu verstecken ging nicht. Die finnische Polizei war viel effektiver als die schwedische. Alle Finnen, die untertauchen wollten, setzten sich schnellstens nach Schweden ab.
Aber wenn man nun unbedingt nach Finnland rüberwollte, war das kein Problem, natürlich nur, wenn man ein frisch geklautes Auto hatte, das noch nicht als gestohlen gemeldet war.
Man konnte den Grenzfluss überall ungehindert überqueren. Brücken über den Torneälv gab’s in Haparanda, Övertorneå, Pello, Kolari, Muonio und Karesuando. Jeder Übergang hatte seine Vorteile: In Haparanda waren die Zöllner am trägsten, in Kolari war am wenigsten Verkehr, aber dafür fiel man dort am ehesten auf. In Morjärv musste man sich für eine Straße entscheiden, entweder nach Norden Richtung Överkalix oder nach Süden Richtung Haparanda. Hinter der Grenze kam es darauf an, so schnell wie möglich nach Russland rüberzufahren, als wäre der Leibhaftige hinter einem her.
»Russland?«, hakte Jacob ein. »Wie weit ist es bis dahin?«
» Jä nögges tjöör över Kuusamo, hä jär som rättjest …«
»Dreihundert Kilometer«, sagte Dessie.
»Lächerlich«, sagte Jacob. »Das ist ja gar nichts, das ist wie von Manhattan nach Long Island.«
Laut dem Alten war es viel schwieriger, über die russische Grenze zu gelangen, das war schon seit jeher so.
Zu seiner Zeit hatte es Minen im Niemandsland gegeben, aber die waren ja jetzt geräumt. Heute war der Streifen die Außengrenze der Europäischen Union und entsprechend schwierig zu überwinden, aber unmöglich war es nicht. Das Problem war nicht, aus der EU herauszukommen , sondern hinein . Das Auto konnte man irgendwo stehen lassen, und dann spazierte man wie zufällig hinüber, am besten gleich oberhalb von Tammela. Auf der anderen Seite der Grenze war eine große Straße, die einen nach Petrozavodsk und weiter nach Sankt Petersburg brachte.
Dessie und Jacob saßen schweigend da, nachdem der Mann geendet hatte.
Der Großvater erhob sich, stellte die Kaffeebecher auf der Spüle ab und
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