Letzter Mann im Turm - Roman
handelt.»
Kudwa nahm seine Brille ab. «Er hat gegen keinen dieser Punkte verstoßen.»
Mrs Puri drehte sich mit offenem Mund zu Ajwani um.
«Das hat er nicht? Hat er nicht gesagt, dass er das Angebot unterschreibt, und dann wieder seine Meinung geändert? Heißt das nicht, die Genossenschaft zu hintergehen? Hat er uns nicht diePolizei ins Haus geholt? Und die Sachen, die Mary in seinem Müll gesehen hat, erzähl ihm davon, Ajwani, erzähl’s ihm …»
Der Makler kitzelte Klein-Mariam am Bauch, statt diese Funde zu beschreiben.
Kudwa nahm seine Tochter wieder an sich.
«Ich will es euch recht machen und Ja sagen. Das ist meine große Schwäche. Ich wollte es meinen Freunden im College recht machen, also wurde ich Mitglied der Rock-’n’-Roll-Band. Ich schicke meinen Jungen zum Taekwondo, weil du jemanden wolltest, mit dem deine Jungs trainieren können. Ich will es meinen Nachbarn recht machen, die mich für einen ehrlichen Mann halten, also tue ich so, als wäre ich einer.»
Ibrahim Kudwa schloss die Augen. Er drückte Mariam an sich.
Er wollte ihr erzählen, wie sehr sich seine Kindheit und Jugend von dem Leben unterschied, das sie später führen würde.
Sein Vater hatte in einer Stadt nach der anderen, in Nord- und Südindien, Eisenwarenhandlungen eröffnet und wieder geschlossen, bis er sich schließlich, als sein Sohn vierzehn war, in Mumbai niedergelassen hatte. Der Junge war nirgendwo lange genug gewesen, um Freundschaften zu schließen. Seine Mutter hatte ihm etwas Besseres beigebracht, als Freunde zu haben; wie man im Dunkeln dasitzt und die Stunden verstreichen lässt. Wenn sie ihre Schlafzimmertür hinter sich schloss, glitt sie in eine andere Welt; er tat in seinem Zimmer das Gleiche. Dann klingelte es an der Tür, und beide rannten sie aus ihren Zimmern und zurück in die reale Welt. Besucher, Verwandte und Nachbarn: Er bekam mit, wie seine Mutter sie mit einem Lächeln und schönen Worten bestach, damit sie im Gegenzug täglich für ein paar Stunden in ihr persönliches Königreich verschwinden konnte.
Erst als er älter wurde, begriff er, was seine Kindheit in ihm angerichtet hatte. Statt einer menschlichen Seele hatte er Kakerlakenfühler ausgebildet.
Was für einen grausamen Streich ihm die Natur da gespielt hatte,indem sie ihn mit derart sensiblen Fühlern ausgestattet hatte. Was hielt dieser Mann von seiner Kleidung? Was hielt jener Mann von seiner politischen Einstellung? Von seiner englischen Aussprache? Wohin er auch ging, die Meinungen der fünf oder sechs Menschen um ihn herum bildeten einen Lattenzaun um Ibrahim Kudwa. Als er fünfzehn war, hatte er eines Tages mit den Nachbarskindern Kricket gespielt und war dem Ball nachgelaufen, bis dieser in den Abflussgraben gefallen war. Dieser Graben, schwarz, morastig, stinkend, war das Schlimmste, was er jemals gesehen hatte. Aber er wusste, die anderen wollten, dass er den Ball holte; von ihren Erwartungen übermannt, hatte er den Arm bis zum Ellbogen in den Morast getaucht. Als er den Ball herausfischte, war sein Arm grün und schwarz und roch nach faulen Eiern. Ibrahim zeigte den anderen Jungen den schmutzigen Ball, drehte sich dann um und warf ihn zurück in den Graben; er hatte nie wieder mit ihnen Kricket gespielt.
Jedes Mal, wenn er diesen Impuls verspürte, sich einzuschmeicheln, wurde er grob, und so geriet er während seiner Universitätsjahre in den Ruf, launisch wie eine Frau zu sein. Als er Mumtaz heiratete, dachte er:
Ich habe meine Mitte gefunden, dieses Mädchen wird mich stark machen.
Aber die schüchterne Zahnarzthelferin hatte sich nicht zu dieser Sorte Ehefrau entwickelt; wenn sie unglücklich war, weinte sie im stillen Kämmerlein. Sie weigerte sich, ihn an die Hand zu nehmen. Manchmal wollte Ibrahim Kudwa alles stehen und liegen lassen, sogar Mariam, und nach Ladakh flüchten und mit diesen tibetischen Mönchen zusammenleben, die er im letzten Urlaub gesehen hatte.
Er betrachtete das Dokument, das ihm Mrs Puri und Ajwani mitgebracht hatten, aber er fasste es nicht an.
«Noch vor drei, vier Monaten habt ihr ihn einen englischen Gentleman genannt. Ja,
Sie,
Sangeeta. Und jetzt …»
«Ibrahim, weißt du, was das
Kala Paani
ist?», fragte Ajwani. «So haben sie früher das Meer genannt. Schwarzes Wasser. Hindusdurften nicht auf dem
Kala Paani
segeln. Deshalb sind wir so rückständig. Aus Angst. Wir alle stehen gerade vor dem
Kala Paani.
Wir müssen es überqueren, oder wir werden für den Rest unseres Lebens in
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