Letzter Mann im Turm - Roman
der Vishram Society festhängen.»
«Diebstahl.» Kudwa flüsterte. «Ihr wollt, dass ich einen Diebstahl gutheiße.»
«Das ist kein Diebstahl. Ich kann das sagen, Ibrahim, denn ich weiß, was Diebstahl ist. Ich bin kein so guter Mensch wie du. Und ich sage dir, Diebstahl ist das
nicht.»
Kudwa schlug auf den Tisch und erschreckte damit Mariam, die anfing zu weinen.
Seine Besucher standen auf, und Kudwa tröstete das Kind. Als sie an der Tür waren, meinte er, Ajwani flüstern zu hören: «… so typisch für seine Religion.»
Er konnte hören, wie Mrs Puri zurückflüsterte: «… meinen Sie damit?»
Er sah Ajwani an der Tür stehen und mit der weißen Katze spielen; Mrs Puri, mit der er sprach, wurde vom Banyanbaum verdeckt.
«Treten sie etwa der Armee bei? Der Polizei? Null Nationalgefühl. Null.»
Kudwa konnte kaum atmen.
«Warum die Religion ins Spiel bringen, Ajwani?», fragte Mrs Puri hinter dem Baum. «Er lebt seit zehn Jahren in Vishram … gut, seit neun …»
Der Makler stellte seinen Schuh auf die weiße Katze, hilflos wand sie sich um seinen Fuß.
«Es muss jetzt mal gesagt werden, Mrs Puri. Wäre er Christ, Parse, Sikh oder sogar
Jaina –
er würde zustimmen.»
Und dann wurden die beiden Stimmen leiser.
Kudwa schloss die Augen und tätschelte seine Tochter.
Glaubte Ajwani, dass er seinen Plan nicht durchschaute? Mrs Puri war auch darin verwickelt. Sie hatten diesen Dialog wahrscheinlichgeprobt, bevor sie in sein Internetcafé gekommen waren. Als Nächstes würden sie ihn wegen seiner Schuppen hänseln. Aber es würde nicht funktionieren. Es würde
nicht
funktionieren. Mit der linken Hand wischte er sich über die Schultern.
Er versuchte, die Gedanken seiner Nachbarn zu lesen. Begriff Ajwani nicht, dass so ein Ausschluss zum Bumerang werden würde? Diese neue Strategie würde Masterji nur noch bestärken.
Aber vielleicht wollte Ajwani, dass die Dinge schiefgingen.
Kudwa hatte auch das Gerücht gehört, dass dem Makler von Mr Shah ein Extra versprochen worden war. Vielleicht stieg Ajwanis Preis ja in dem Maße, wie sich die Situation in Vishram verschlimmerte. Mittlerweile war in Vishram alles so kompliziert geworden, und Kudwa beobachtete, wie in seiner Wohnungsgenossenschaft Vorsätze und Pläne vernichtet wurden. Er war so in Gedanken versunken, dass er nicht mitbekam, wie die weiße Katze ins Büro strich, auf den Tresen kletterte und Mariam beinahe das Gesicht zerkratzt hätte.
17. AUGUST
Ein Mann in Gefahr muss eine bestimmte Routine entwickeln.
Masterji verließ nun nur noch zweimal täglich seine Wohnung. Morgens um Milch zu holen, abends Brot. Draußen blieb er möglichst im Gedränge; alle zehn Schritte drehte er sich um und guckte, ob ihm jemand folgte.
Er gab der Versuchung nach, nachmittags ein Nickerchen zu halten. Abends, im Dunkeln, konnte er sich Purnima ins Gedächtnis rufen, wenn er vor dem
almirah
stand und den Geruch des Kampfers und ihres alten Saris einatmete. Aber die Nachmittage waren hell und schwierig, die Welt draußen lockte. Die regelmäßigen Nickerchen halfen ihm, sich die Zeit zu vertreiben.
An diesem Nachmittag aber hatte er einen Albtraum. Er hatte von Purnimas Brüdern geträumt.
Als er in der Abenddämmerung erwachte, hinkte er zum Waschbecken im Wohnzimmer. Er schlug mit dem Handballen gegen den Wasserhahn.
Kein Tropfen Wasser.
Er starrte den trockenen Hahn an und spürte, dass in diesem Augenblick keine Kraft mehr in ihm war.
Er schloss die Augen und dachte an den Vollmond, den er vor vielen Jahren bei einem einwöchigen Urlaub in Shimla, hoch im Himalaya, gesehen hatte, nur wenige Monate vor seiner Hochzeit. Er hatte sich in einem billigen Hotel einquartiert; eines Nachts war das Mondlicht so hell gewesen, dass es ihn geweckt hatte. Als er nach draußen ging, war der kalte Himmel über den Bergen von einem Mond erleuchtet, der größer und heller war, als er ihn je zuvor gesehen hatte. Eine Stimme, die klang, als käme sie vom Himmel herab, hatte geflüstert: «Dir steht eine große Zukunft bevor.»
Er malte einen Kreis in das trockene Waschbecken.
Er ging zur Toilette und blieb auf der Schwelle stehen; über den gefliesten Fußboden krabbelten überall Ameisen. Er stützte sich mit den Händen am Türrahmen ab und beugte sich vor. Die schwarzen Dinger hatten sich unten in der Toilettenschüssel aufgereiht wie Tiere an einem Trog.
Konnte es da noch irgendwelche Zweifel geben? Sie waren wegen des Zuckers in seinem Urin gekommen. Er
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