Letzter Mann im Turm - Roman
Seeschlange, schoss ein Flugzeug über einen kleinen tamilischen Tempel. Nach diesem Wahrzeichen hatte sie in ihrem Gedächtnis gesucht, nach diesem Tempel. Irgendwo hier hatte sie den Klempner gesehen.
Eine Gruppe Jungen spielte beim Tempel Kricket; das Gesicht eines Hüterdämons, das auf die Außenwand gemalt war (sein schwarzer Mund weit geöffnet, um sämtliche Übeltäter der Welt zu verschlingen), diente als Wicket.
Diese ganze animalische Kraft, all diese Schreie, ach, wie weh das einem Mutterherz tat! Diese Jungen mit ihren zarten Gliedern und eckigen Ellbogen wuchsen zu Männern heran. Und nicht einer von ihnen sah auch nur halb so gut aus wie ihr Ramu.
«Mummy», schrie einer der Kricketspieler, «Mummy, Mrs Puri ist hier.»
Mary, die Putzfrau der Vishram Society, erhob sich vom Wurzelwerk eines Baums im Tempelhof und wischte sich die Hände an ihrem Rock ab.
«Das ist mein Sohn.» Sie zeigte auf den Kricketspieler. «Timothy. Verbringt zu viel Zeit hier, mit Spielen.»
Im Wohnhaus war die Beziehung zwischen Mary und Mrs Puri frostig («Ja, es gehört zu deinen Aufgaben, die Morgenkatze einzufangen.»), aber der Abstand zu Vishram und die Anwesenheit von Marys Jungen erlaubten es, dass sich die Spannung zwischen Herrin und Dienerin ein wenig lockerte.
«Hübscher Junge. Groß und kräftig.» Mrs Puri lächelte. «Mary, dieser Klempner, der hier lebt, ich muss ihn finden, ich brauche ihn für ein paar Arbeiten in Masterjis Wohnung.»
«Madam –»
«Seine Leitungen sind verstopft. Außerdem müsste seine Decke geschrubbt werden. Ich werde von Wohnung zu Wohnung gehenund Geld für den Klempner sammeln. Sie beuten ihn alle aus, er unterrichtet ihre Kinder kostenlos.»
«Madam, heute werden Sie hier niemanden finden. Wegen der großen Neuigkeiten. Sie sind alle zur Hütte des Moslems gelaufen.»
«Was sind das für große Neuigkeiten, Mary?»
«Haben Sie’s nicht gehört, Madam?» Sie lächelte. «Gott hat heute die Slums besucht.»
Am Abend wurden diese «großen Neuigkeiten» von Ritika bestätigt, einer alten Freundin von Mrs Puri aus Collegetagen, einer Bewohnerin von Turm B, die zu einer Sitzung des Parlaments herüberkam.
Weil sie im Durchschnitt mehr verdienten, jünger waren und sich «irgendwie moderner» vorkamen, blieben die Bewohner von Turm B unter sich, benutzten ein eigenes Tor und feierten auch ihre religiösen Feste für sich.
Nur Ritika, schon im College eine Angeberin, kam als Einzige jemals zum Turm A, für gewöhnlich, um mit irgendetwas zu prahlen. Ihr Mann, ein Arzt, der eine Klinik in der Nähe der Autobahn besaß, hatte gerade mit einem Moslem aus den Slums gesprochen, der zu seinen Patienten gehörte.
Mrs Puri gefiel es nicht, dass Ritika so viel Aufmerksamkeit bekam – wer hatte denn beim Debattierwettbewerb im College den Kürzeren gezogen? –, aber sie saß auf einem Plastikstuhl zwischen Ajwani, dem Makler, und Kothari, dem Verwalter, und hörte zu.
Mr J. J. Chacko, der Chef des Ulitmex-Konzerns, hatte diesem Moslem eine Summe von 8,1 Millionen Rupien für seine armselige Hütte geboten. Sie lag nicht weit von Vishram entfernt, nur ein Stückchen die Straße runter, dort wo die beiden neuen Gebäude hochgezogen wurden. Das war der Confidence-Konzern. J. J. Chacko war ihr größter Konkurrent. Also kaufte er das gesamteLand direkt gegenüber den beiden neuen Gebäuden auf. Ihm gehörte bereits alles um diese Hütte herum; aber dieser dickköpfige alte Moslem sagte immer bloß
Nein, Nein, Nein,
also erschlug ihn Mr Chacko mit diesem astronomischen Angebot, das auf Gott weiß welcher Grundlage berechnet war.
«Bitte wartet alle mal kurz. Ich werde herausfinden, ob das stimmt.»
Ramesh Ajwani (4 A), freundlich und dunkelhäutig, war in Vishram als typischer Vertreter der Immobilienmaklerzunft bekannt. Man konnte seiner Moral ebenso wenig trauen, wie man seinen Informationen misstrauen konnte. Er tippte auf die Tasten seines Handys; sie warteten, nach einer Minute piepste es.
Ajwani las die SMS. «Stimmt.»
Sie seufzten.
Auch wenn sich die Vishram-Bewohner von den Slums fernhielten, waren sie sich durchaus über die Veränderungen im Klaren, die sich dort zutrugen, seit das Bandra-Kurla-Zentrum (BKZ), der neue Finanzmittelpunkt der Stadt, direkt daneben eröffnet worden war. Bombay faltete sich wie ein Yogameister um sich selbst, indem es sein Zentrum vom Süden, wo es sich nicht mehr ausbreiten konnte, in diese sumpfige Gegend in der Nähe des Flughafens
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